
Fast 40 Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zeigt sich europaweit eine Renaissance der Atomenergie. In Deutschland spricht sich zwei Jahre nach der Abschaltung der letzten Atomkraftwerke eine knappe Mehrheit (55 Prozent) für eine Rückkehr zur Kernenergie aus. Viele Länder machen ihren Ausstieg rückgängig. Unterdessen wartet Österreich auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das die EU-Einstufung der Kernenergie als „umweltverträglich“ abwenden soll.
Obwohl sich aktuell in Deutschland in der Bevölkerung laut der repräsentativen Umfrage des Vergleichsportals Verivox eine Mehrheit für den Wiedereinstieg finden würde, ist eine schnelle Kehrtwende – zumindest innerhalb der nächsten vier Jahre – nicht zu erwarten. Im kürzlich beschlossenen Regierungsprogramm der künftigen Koalitionspartner, SPD und Union, kommt Atomenergie nicht vor. Zu unterschiedlich sind die Positionen: Die SPD hält am Atomausstieg fest, während die Union in den Koalitionsverhandlungen der Atomenergie eine mögliche „bedeutende Rolle“ einräumte. Letztendlich setzte sich die SPD durch – oder man beschloss zumindest, sich in dem Punkt nicht einigen zu können.
Mehrere Staaten vollziehen Kehrtwende
Viele der EU-Mitgliedsstaaten treiben die Nutzung der Kernenergie – spätestens nach dem Beschluss der EU-Taxonomie-Verordnung 2020 sowie seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs, der die Energieabhängigkeit von Russland deutlich machte – weiter voran. Frankreich bleibt einer der stärksten Befürworter und investiert massiv in neue Atomkraftwerke sowie in die Entwicklung kleiner modularer Reaktoren (SMRs). Polens erstes kommerzielles Kernkraftwerk soll ab 2028 gebaut werden, im Jahr 2036 in Betrieb genommen werden und 2039 voll einsatzfähig sein. Ungarn erweitert mit russischer Unterstützung das bestehende Atomkraftwerk Paks. Auch Tschechien, die Slowakei und Finnland investieren in den Ausbau ihrer Kernenergie-Kapazitäten – insbesondere die letzteren zwei argumentieren den Ausbau mit Klimaaspekten und wollen auf diese Weise die Energiewende stemmen.
Eine Kehrtwende gab es in einigen Ländern: Belgien beschloss ursprünglich einen Atomausstieg für 2025, entschied dann aber, diesen um zehn Jahre zu verschieben. Auch Schweden hat seine ursprünglichen Ausstiegspläne für 2010 aufgehoben. Im November kündigte die schwedische Regierung an, den Bau neuer Reaktoren durch Privatinvestoren ermöglichen zu wollen und schlug im März zur Investitionsförderung staatliche Kredite und Strompreisgarantien vor. In den Niederlanden wurde ebenso ein früherer Beschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie rückgängig gemacht, in 2021 kündigte die niederländische Regierung den Bau zwei neuer Kernkraftwerke an. In Spanien hätten laut dem planmäßigen Atomausstieg zwischen 2027 und 2035 alle aktiven Reaktoren schrittweise stillgelegt werden sollen. Mitte Februar stimmte allerdings das nationale Parlament einem Vorschlag der oppositionellen christdemokratischen „Partido Popular“ zur Verlängerung der Betriebszeiten der Atomreaktoren zu.
Italien: Ablehnung in der Bevölkerung, trotzdem Kernenergie-Pläne
In Italien wurde der Ausstieg aus der Atomenergie – als Reaktion auf die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 – ein Jahr später per Volksabstimmung entschieden. 2011 wurde der Wiedereinstieg in einem Referendum abgelehnt. Nichtsdestotrotz arbeitet der italienische Energieminister Gilberto Pichetto Fratin aktuell einen detaillierten Plan für die Rückkehr zur Atomenergie aus, dies kündigte er im Jänner an. Durch moderne Atomkraftwerke in Kombination mit erneuerbaren Energien könne Italien in die Lage versetzt werden, seine Klimaziele zu erreichen, sagte der Minister. Zugleich könne Italien damit „volle und umfassende Energiesicherheit“ erlangen.
Zwischen 2027 und 2029 will sein Ministerium jährlich 20 Millionen Euro in die Atomkraft investieren, obwohl in einer Umfrage vom November 2024 vier von fünf Italiener ihre Ablehnung äußerten. Ein neuerliches Referendum ist hinsichtlich eines Wiedereinstiegs gesetzlich nicht notwendig.
Österreichs Klage gegen die „grüne“ Einstufung der Atomenergie
In Österreich steht der Einstieg in die Kernenergie nicht zur Debatte: Traditionell hält man – insbesondere seit der Volksabstimmung 1978 zur Nicht-Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Zwentendorf – an einer atomkritischen Haltung fest. Bestärkt hat diese auch die Tschernobyl-Katastrophe vom 26. April 1986. Österreich setzt sich auf EU-Ebene konsequent gegen eine Einstufung von Atomkraft als nachhaltige Energieform ein. Wien klagte deshalb auch vor dem Europäischen Gerichtshof (EuG) in Luxemburg gegen die Entscheidung der EU-Kommission von 2022, in der Taxonomie-Verordnung Atomkraft und fossiles Gas unter Auflagen zu den klimafreundlichen Übergangstechnologien zu zählen.
Der EU-Kommission wird unter anderem vorgeworfen, sie „verkenne die Risiken einer erheblichen Beeinträchtigung mehrerer der geschützten Umweltziele durch schwere Reaktorunfälle und die hoch radioaktiven Abfälle.“ Wann das EuG sein Urteil fällen wird, ist noch nicht bekannt. Danach besteht zudem die Möglichkeit, dass eine Verfahrenspartei Einspruch beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen das Urteil einlegt.
Kampf um Technologieführerschaft
Nach Angaben der internationalen Energieagentur (IEA) wird die Stromerzeugung aus der weltweiten Anzahl von fast 420 Reaktoren 2025 einen neuen Höchststand erreichen. Die Kernenergie erzeuge knapp zehn Prozent der weltweiten Stromerzeugung und sei „heute nach der Wasserkraft die zweitgrößte Quelle für emissionsarmen Strom“.
Allerdings, betont die IEA, hänge der Bau von neuen Reaktoren massiv von chinesischen und russischen Technologien ab. Von den 52 Reaktoren, die seit 2017 weltweit in Bau gegangen sind, seien 25 chinesischer und 23 russischer Bauart. Insbesondere China sei deshalb auf dem besten Wege, „bis 2030 sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Europäische Union bei der installierten Kernkraftkapazität zu überholen“. Nichtsdestotrotz könne eine Technologieführerschaft der USA und der EU beim Bau von SMRs eine neue Dynamik bringen.
Abhängigkeit von Atomenergie innerhalb der EU
Wie sehr sich europäische Länder aktuell auf den Strom aus Atomkraftwerken verlassen, zeigen Zahlen der IEA. Demnach ist Frankreich die Atom-Nation der EU: Rund 65 Prozent der französischen Stromerzeugung fußen auf Kernenergie. Ebenfalls mehr als die Hälfte des Strommix hat die Kernspaltung im letzten Jahr in der Slowakei (63 Prozent) ausgemacht. Auch Ungarn, Finnland, Belgien und Bulgarien beziehen mindestens 40 Prozent ihres Stroms aus Nuklearenergie. Im Durchschnitt sind es innerhalb der EU 26 Prozent.
(Von Daniela Pirchmoser/APA)
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