
Die Energiewende stellt die Elektrizitätswirtschaft vor neue Herausforderungen. Strom muss jetzt smart erzeugt, verteilt und gemanagt werden. Doch wie digitalisiert Österreich die Energie, die das (Wirtschafts-)Leben am Laufen hält?
Früher war die Energie-Welt nicht besser. Aber deutlich einfacher gestrickt. „In der Vergangenheit waren die größten Verbraucher in Privathaushalten E-Herd, Warmwasserboiler und Waschmaschine. Entsprechend verlässlich konnte man den durchschnittlichen Verbrauch vorausberechnen“, sagt Christian Zwittnig, Sprecher der österreichischen E-Wirtschaft. „Heute erleben wir sowohl beim Verbrauch als auch bei der Einspeisung Spitzen, die das Netz überfordern können. Auf der einen Seite bringt das Schnellladen von E-Autos Haushaltsanschlüsse schnell an ihre Leistungsgrenze – gleichzeitig setzt aber auch die Stromproduktion aus PV-Anlagen, die in der Mittagszeit viel Energie einspeisen, unsere Netze zusehends unter Druck.“
Das Klimaschutzministerium begann daher schon vor vier Jahren, über die multilaterale Joint Programming Platform „Smart Energy Systems“ jährliche Förderausschreibungen zu den Themen Smart Grids, integrierte regionale und lokale Energiesysteme, Wärme- und Kältenetze sowie Digitalisierung des Energiesystems und Smart Services zu organisieren. Parallel dazu wurden die mechanischen Ferraris-Zähler, bei denen der Verbrauch in Kilowattstunden auf einer analogen Anzeige per Rollenzählwerk angezeigt wird, durch elektronische Smartmeter ersetzt. „Diese Daten sind für Netzbetreiber wertvoll, sie könnten die verfügbaren Mittel damit noch zielgerichteter einsetzen“, sagt Zwittnig. „Aktuell sind die Bestimmungen zu ihrer Nutzung aber sehr restriktiv.“
Smarte Kommandozentrale
Dass Computer, Kaffeemaschine und Nachttischlampe auch bei extremen Produktions-und Verbrauchsspitzen verlässlich ihren Dienst tun, entscheidet sich in einem 2009 errichteten Gebäude an der Wiener Außenring-Schnellstraße S1, das ein bisschen wie ein am Kopf stehender Schiffsrumpf aussieht. Hier befindet sich die Steuerzentrale des Austrian Power Grid (APG), das Nervenzentrum der österreichischen Stromversorgung. „Wir steuern das Übertragungsnetz und sorgen dafür, dass das System 24/7 stabil bleibt“, fasst es Gerhard Christiner, der Technische Vorstand, zusammen.
Für die sichere Planung nützen die Spezialist:innen vor Ort einen digitalen Zwilling des europäischen Stromsystems. „Nach Börsenschluss bekommen wir alle Informationen über Kraftwerke und verfügbare Leitungen, die morgen europaweit im Einsatz sein werden“, erklärt Christiner. „Diese Daten pflegen wir in die Simulation ein und stimmen uns auf nationaler und europäischer Ebene über mögliche Engpässe im Stromtransport ab. Wir koordinieren Reparaturarbeiten im Stromnetz, analysieren, wo eine Leitung zu wenig Kapazität hat, und können regulierend und korrigierend eingreifen, damit der Folgetag sicher abläuft.“
Digitalisierung spielt aber nicht nur bei den europäischen Abstimmungsprozessen eine wesentliche Rolle, sondern auch bei den APG-Betriebsmitteln, von denen viele mit Sensoren ausgestattet sind. Diese liefern den österreichweit rund 1.000 APG-Expert:innen hochsensible
Kontrollblick. Statt schwindelfreier Ingenieure inspizieren heute Drohnen die Stromleitungen. Ihre Video-Aufnahmen werden von einer KI ausgewertet.
Daten von 67 Umstellwerken und 100 Transformatoren – oder von den 7.000 Kilometern Leitung. Bei der Erkennung von Leitungsschäden oder defekten Bauteilen helfen heute Drohnen, deren Videoaufnahmen von einer Künstlichen Intelligenz gesichtet werden. Und um den Stromtransport noch effizienter zu machen, wird „Dynamic Line Rating“ eingesetzt. So kann etwa eine Freileitung, durch die im Sommer 500 Megawatt laufen, bei niedriger Außentemperatur und Wind bis zu 700 Megawatt leiten. „Solche in Echtzeit übertragenen Informationen bringen uns enorme Vorteile für die Betriebsführung und helfen uns, massiv Geld zu sparen“, sagt Gerhard Christiner. Pro Jahr kann APG dank Thermal Rating rund 100 Millionen Euro an Kosten reduzieren.
Wildwuchs bei Erneuerbaren
Die Herausforderung: Anders als Schuhe, Bier oder Computerchips funktioniert das Stromsystem nur dann, wenn in jedem Moment die Balance zwischen Angebot und Nachfrage gehalten wird. Während sich thermische Kraftwerke an den Verbrauch der Konsument:innen anpassten, liefern PV- oder Windanlagen aber nur Strom, wenn der Wind weht oder die Sonne scheint. Deswegen klaffen Produktions-und Verbrauchsspitzen bei erneuerbaren Energien oft weit auseinander – was mittlerweile dazu führt, dass der Strompreis an sonnigen Tagen etwa zu Mittag, wenn der Stromverbrauch generell niedrig ist, bei Null steht oder sogar ins Negative fällt, in den Abendstunden jedoch wieder massiv steigt. „Generell lässt sich sagen, dass der Netzausbau nicht mit dem Tempo des Ausbaus der Erneuerbaren mithalten kann. Darum müssen wir für die Stabilität des Systems oft Mehrkosten in Kauf nehmen, indem wir günstige Kraftwerke drosseln und dafür teure, die näher an den Verbrauchszentren stehen, hochfahren.“
Wie man auch von Kund:innenseite mehr Flexibilität ins System bringt, demonstriert die österreichische Stromanbieterin oekostrom AG mit dem „smartSparen“-Produkt. „Wir können auf Kund:innenwunsch die meisten Wärmepumpen, fast alle Elektroautos und einige Wechselrichter über eine Internet-Schnittstelle so ansteuern, dass sie genau zum Zeitpunkt des günstigsten Strompreises mit dem Ladevorgang beginnen“, erklärt Philipp Rehulka, Geschäftsführer der oekostrom Vertriebs GmbH. Wer möchte, kann sogar live am Smartphone mitverfolgen, wie viel Geld er oder sie sich auf diesem Weg beim E-Auto-Ladevorgang oder im Haushalt in einem vorgegebenen Zeitraum erspart hat. „Es macht gesamtgesellschaftlich Sinn, Kund:innen dafür zu belohnen, das System zu entlasten und den Stromverbrauch auf jene Zeiten zu verschieben, in denen zu viel sauberer Strom im Netz ist“, sagt Rehulka. Meist handelt es sich dabei um die Mittagszeit oder um die Stunden zwischen Mitternacht und vier Uhr früh. Für präzisere Strompreisprognosen auf Basis der stündlichen Spotmarktpreise ist bei der oekostrom AG ein hauseigener Algorithmus verantwortlich.
Nächster Schritt: Prosuming
Die zunehmende Digitalisierung könnte Privatkund:innen aber nicht nur zu mündigeren, selbstbestimmteren Konsument:innen machen, sondern auch PV-Anlagen-Besitzer:innen zu aktiven Teilnehmern am Energiemarkt. Deren Speicheranlage steht nämlich oft direkt vorm Haus. „Wenn man bedenkt, dass unsere Autos 95 Prozent der Zeit ungenutzt bleiben, steckt in der Elektromobilität eine ungeheure Speicherkapazität – denn ein E-Auto mit 80 oder 100 kWh Speicher könnte ein Haus drei bis fünf Tage lang mit Energie versorgen“, sagt APG-Vorstand Gerhard Christiner. „Zusätzlich haben wir private Batteriespeicheranfragen für 4.500 Megawatt am Tisch liegen. Wenn wir die Digitalisierung und die smarte Erfassung von Daten forcieren, wenn wir die Einspeisung von Energie besser als bisher koordinieren, dann können wir mit diesem privaten Potenzial die Produktionsüberschüsse der erneuerbaren Energien gut auffangen – und sparen uns viele Investitionen im Netzausbau.“
Aussicht auf Gratis-Strom?
Macht smarter Strom künftig womöglich auch unabhängiger von den großen Stromerzeugern, und werden die das ohne Murren hinnehmen? „Unser Strombedarf wird sich bis 2040 verdoppeln, diese wachsende Nachfrage muss erst einmal gedeckt werden“, sagt E-Wirtschafts-Sprecher Zwittnig. „Dafür brauchen wir einen ganzheitlichen Planungsansatz und eine faire Verteilung der Kosten. Wer das System stärker belastet, muss auch einen entsprechenden Beitrag leisten.“
Per App zeitgesteuert nur noch Gratis-Strom zu verbrauchen – das wird also wohl auch in Zukunft keine realistische Alternative werden.
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