Speichern allein reicht nicht

17. Juni 2025

Die Ziele der Regierung bei der CO2-Speicherung bleiben laut Experten hinter den Erfordernissen zurück. Sie pochen auf einen anderen Rechtsrahmen – und liefern Vorschläge.


Bereits im November könnte ein Gesetz in Kraft treten, das es Industrieunternehmen in Deutschland erlaubt, CO2 abzuscheiden und zu speichern. Die Technologie „Carbon Capture and Storage“ (CCS) gilt als wichtiges Instrument bei der klimafreundlichen Transformation der Industrie – doch Vertretern von Unternehmen und Forschungseinrichtungen geht das geplante Gesetz nicht weit genug.


Unternehmen wie der Mannheimer Regionalversorger MVV Energie möchten mehr als nur CO2 abscheiden und unterirdisch speichern: Sie wollen der Atmosphäre zusätzlich CO2 entziehen. Das sei nötig, um die Klimaziele zu erreichen, argumentiert MVV Energie. Mit CCS allein sei das nicht zu schaffen – die Technologie verhindert lediglich, dass CO2 überhaupt erst in die Atmosphäre gelangt.


Christoph Helle, Generalbevollmächtigter bei MVV, sagte dem Handelsblatt, es bestehe die Gefahr, dass sich die Bundesregierung auf das Thema CCS fokussiere, die Entnahme und Speicherung von CO2 aus der Atmosphäre dagegen erst langfristig eine Rolle spiele. „Das ist nach unserer Überzeugung falsch. Wir benötigen schon jetzt rasch eine klare Weichenstellung“, kritisiert Helle.


Doch was steckt hinter dem Vorstoß? Helle spielt auf ein Grundproblem des Klimaschutzes an: Klimaneutralität lässt sich durch die Reduktion von CO2 allein nicht erreichen. Denn es gibt Restemissionen, die sich nicht vermeiden lassen. Sie fallen etwa in der Landwirtschaft, in der Zementindustrie und bei der Abfallverwertung an.


Um dennoch Klimaneutralität zu erreichen, muss über die Reduktion von CO2-Emissionen hinaus der Atmosphäre CO2 entnommen und dauerhaft gespeichert werden. In der Branche wird das als „Negativemissionen“ bezeichnet.
CCS ist demnach nur eine Technologie auf dem Weg zur Klimaneutralität, aber nicht die alleinige. Die Regierung treibt das Thema CCS voran: Laut einer als Verschlusssache eingestuften Leitungsvorlage aus dem Bundeswirtschaftsministerium hält es das Haus von Ministerin Katherina Reiche (CDU) für möglich, schon Mitte oder Ende Oktober dieses Jahres ein entsprechendes Gesetzesvorhaben abzuschließen. Bis das Gesetz in Kraft tritt, dürften sechs bis acht weitere Wochen vergehen.
Das Gesetz würde im Wesentlichen die Vorarbeit aufgreifen, die von der Ende vergangenen Jahres gescheiterten Ampelkoalition geleistet wurde. Negativemissionen sind mit dem Gesetz allerdings nicht adressiert.


MVV Energie steht mit der Kritik nicht allein. Oliver Geden, Leiter des Forschungsgebiets Klimapolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), unterstützt den Vorstoß, dass sich die Regierung stärker auch mit Negativemissionen beschäftigen müsse.
„Denn Klimaneutralität lässt sich ohne CO2-Entnahme nicht erreichen – weder in Deutschland noch in der EU. Im nächsten Schritt braucht es auch regulatorische und finanzielle Anreize“, sagt Geden, der Vizevorsitzender der Arbeitsgruppe III des Weltklimarats IPCC ist, die sich auch mit Negativemissionen beschäftigt.
Wissenschaftler rechnen unter Verweis auf globale Klimaschutzszenarien vor, dass bis zur Mitte des Jahrhunderts CO2 in einem Umfang von global jährlich sieben bis neun Milliarden Tonnen der Atmosphäre entzogen und gespeichert werden müsste, um das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen.
Zur Einordnung: Der weltweite Ausstoß von Kohlendioxid erreichte dem Statistischen Bundesamt zufolge im Jahr 2023 einen Wert von etwa 37,8 Milliarden Tonnen. In Deutschland wurden 2024 laut Umweltbundesamt 0,649 Milliarden Tonnen Treibhausgase emittiert.


MVV Energie arbeitet bereits an verschiedenen Projekten. Der Versorger verbrennt etwa in Kraftwerken Biomasse. Das abgeschiedene CO2 soll anschließend gespeichert werden. Weil Pflanzen beim Wachstum genauso viel CO2 aufnehmen, wie bei ihrer Verbrennung freigesetzt wird, gilt der Vorgang als CO2-neutral. Wenn das bei der Verbrennung von Biomasse frei werdende CO2 gespeichert wird, wird der Atmosphäre somit CO2 entnommen.
Auf diesem Wege will MVV Energie schon vor 2035 negative Emissionen erzielen. Fachleute subsumieren das von MVV Energie gewählte Verfahren unter dem Begriff „Bioenergy with Carbon Capture and Utilisation or Storage“ (Beccus).
MVV hat gemeinsam mit dem auf Energiethemen spezialisierten Beratungsunternehmen Guidehouse und der Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE) in einem Gutachten Empfehlungen dafür entwickelt, wie die Politik beim Thema Negativemissionen vorankommen könnte.


An erster Stelle stehe dabei, die Kosten in den Griff zu bekommen. „Für Beccus wird anfangs eine Wirtschaftlichkeitslücke bestehen. Die öffentliche Hand muss uns dabei helfen, diese Lücke zu schließen“, sagt Helle. Die Betriebskosten stellten den entscheidenden Faktor dar. Daher müsse die Förderung der Betriebskosten einen höheren Stellenwert haben als die Förderung der Investition in die Anlage.

Johannes Wagner von Guidehouse geht davon aus, dass die Entnahme einer Tonne CO2 im Beccus-Verfahren 240 Euro kostet. Werde dieser Wert in Relation zu den für 2030 im europäischen Emissionshandelssystem für die Sektoren Energie und Industrie (ETS 1) erwarteten CO2-Preisen gesetzt, ergibt sich laut Wagner „eine Finanzierungslücke von 110 bis 130 Euro je Tonne“.
Aus Wagners Sicht ist entscheidend, dass ein Markt für Negativemissionen entsteht. Dieser Markt soll im ETS 1 aufgehen. Wegen des anfänglichen Preisunterschieds sei das aber ein langfristiges Ziel.
„Der Markt für Negativemissionen kann nicht von Anfang an vollständig in das ETS 1 integriert werden, da sich sonst ein Preis einstellt, der zu niedrig ist für die diversen Technologien für Negativemissionen“, sagt Wagner. „Das wird sich im Laufe der Jahre ändern. Im eingeschwungenen Zustand sehen wir eine komplette Integration.“
Ziel ist es, einen Handel mit Negativemissionen zu etablieren: Ein Unternehmen, das Negativemissionen erzielt hat, könnte dann einem Unternehmen mit unvermeidbaren Restemissionen Zertifikate verkaufen.


Um den Handel mit Negativemissionen zu ermöglichen, wäre ein Zertifizierungs- und Standardisierungssystem erforderlich. Im Gutachten heißt es, dies sei „essenzielle Grundlage für die Nutzung von Beccus-Technologien“.
Tatsächlich existieren zwar bereits Standards und Kriterien, diese sind aber nicht harmonisiert und beruhen auf Freiwilligkeit. Deshalb sei „eine verbindliche Definition von Negativemissionen mit stringenten Nachhaltigkeitsanforderungen notwendig“, heißt es im Gutachten. Bei der Zertifizierung von Negativemissionen müsse vor allem die Langfristigkeit der Speicherung geregelt werden. Voraussetzung sei eine Bindung des CO2 „für einen Zeitraum von mindestens 200 Jahren“.
Doch das alles wird nicht ausreichen. Entscheidend sei, „dass Infrastruktur, Marktdesign und Förderung aufeinander abgestimmt werden“, sagt Wagner. Und dabei sei die Politik gefordert – etwa beim Aufbau der Pipeline-Infrastruktur für den CO2-Transport.


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Klimaneutralität lässt sich ohne CO2-Entnahme nicht erreichen – weder in Deutschland noch in der EU. Oliver Geden Stiftung Wissenschaft und Politik

Handelsblatt