Polen baut sein erstes Atomkraftwerk, um von der Kohle wegzukommen. Es ist mit seinem Schwenk zur Atomenergie nicht allein in Europa. Eine Bestandsaufnahme.
Björn Hartmann Warschau Sandstrand, kilometerweit. Normalerweise lässt sich hier entspannt auf die Ostsee blicken, während der Wind durch die nahen Birken und Kiefern streift. Zuletzt allerdings störten Motorsägen die Idylle, und auch Baumaschinen sind derzeit häufiger unterwegs im Küstenwald von Słajszewo, 70 Kilometer nordwestlich von Danzig. Gebaut wird an der Zukunft der polnischen Energieversorgung: einem Atomkraftwerk.
Während Deutschland 2023 ausgestiegen ist, setzt Polen auch auf Kernenergie, um seine Klimaziele zu erreichen. Noch stammen 60 Prozent des Stroms aus Kohle, die als besonders klimaschädlich gilt. Um das Land im großen Stil verlässlich mit Energie zu versorgen, sollen zwei Kraftwerke insgesamt sechs bis neun Gigawatt Strom liefern.
60 Prozent des Stroms kommen aus Kohle
Für die erste Anlage mit drei Reaktorblöcken sind die Bäume gefällt, vorbereitende Arbeiten, bevor es 2028 richtig losgeht. Den ersten Strom will das staatliche Unternehmen PEJ 2036 liefern. Die Anlage wird eine Fläche von 200 Hektar einnehmen – rund 280 Fußballfelder. Vom Strand aus soll wenig zu sehen sein. Gut 200 Meter Wald schirmen die Anlage ab, heißt es. Allerdings wird ein 1,1 Kilometer langer Anleger die Idylle zerschneiden. Über ihn soll Material zur Baustelle geschafft werden.
Die Region profitiert von den geschaffenen Arbeitsplätzen
Bisher lebt die dünn besiedelte Region vor allem vom Tourismus. Künftig profitiert sie auch von den bis zu 8000 Beschäftigten, die zum Bau nötig sind. PEJ schätzt, dass für jeden von ihnen drei bis fünf Jobs außerhalb der Baustelle entstehen. Schließlich müssen die Beschäftigten versorgt werden. Der erhoffte wirtschaftliche Schub war einer der Gründe, warum sich 67 Prozent der Bevölkerung für das Kraftwerk ausgesprochen haben. In Großbritannien hat die Baustelle des AKW Hinkley Point C der Region ebenfalls einen Aufschwung beschert.
Polen ist mit dem Schwenk zu Atomenergie nicht allein in Europa, aber vergleichsweise weit. Tschechien etwa will zwei neue Reaktoren zum bestehenden Kraftwerkspark bauen. Die Niederlande planen ebenfalls zwei Neubauten. Auch soll das einzige AKW länger laufen. Belgien denkt über eine neue Anlage nach und darüber, die noch nicht abgeschalteten drei am Netz zu lassen.
Meerwasser zum Kühlen in der Nähe
An der polnischen Küste wird der US-Generalunternehmer Bechtel drei Reaktoren des US-Unternehmens Westinghouse mit jeweils 1,25 Gigawatt Leistung errichten. Das Kraftwerk entsteht weit entfernt von den industriellen Zentren und großen Städten Polens, weil es hier reichlich Meerwasser zum Kühlen gibt. Es soll über Tunnel unter der Meeresoberfläche angesaugt und auch wieder abgegeben werden.
Vorgesehen sind neue Straßen und Bahnstrecken, die nicht nur das Kraftwerk, sondern auch die Ortschaften besser anbinden. Die Kosten dafür sind in den geschätzten Gesamtausgaben des Kraftwerks von bis zu 47 Milliarden Euro nicht enthalten. Die Anlage im Küstenwald kann theoretisch zwölf der 14,7 Millionen polnischen Haushalte mit Strom versorgen.
Es ist nicht der erste Versuch des Landes, in die Nuklearenergie einzusteigen. Anfang der 80er-Jahre begann der Bau eines Kraftwerks im nahen Kartoszyno mit Reaktorblöcken russischen Typs. Die Anlage sollte insgesamt 1,6 Gigawatt Leistung haben. Mit der Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 änderte sich dann die Politik. 1989 stoppte die Regierung den Bau. Seither verrotten die Betonruinen vor sich hin.
Ob 20 Kilometer Luftlinie entfernt das neue Kraftwerk tatsächlich 2036 ans Netz geht, ist unklar. Neu gebaute AKW in Europa lagen bisher immer hinter dem Zeitplan und verteuerten sich kräftig. Bei Olkiluoto-3 in Finnland waren 16,6 Jahre vom ersten Spatenstich bis zur Stromlieferung nötig, geplant waren 4,2 Jahre. Der Doppelreaktor in Hinkley Point sollte 2023 nach zehn Jahren Bauzeit ans Netz, derzeit wird um 2030 angepeilt. Flamanville-3 in Frankreich wurde 2024 zwölf Jahre später als geplant hochgefahren.
Neu gebaute AKW verteuerten sich anderswo kräftig
Hinkley Point C hat eine Leistung von 3,2 Gigawatt. Die Kosten sind derzeit mit 54 Milliarden Euro angegeben, geplant waren 19 Milliarden Euro. Olkiluoto-3 (1,6 Gigawatt Leistung) kostete rund elf statt 4,5 Milliarden Euro. Flamanville-3 in Frankreich (EdF) 23,7 statt 3,3 Milliarden Euro.
Auch die Finanzierung der drei polnischen Reaktorblöcke in Słajszewo ist noch nicht ganz sicher. Der Staat stellt rund 15 Milliarden Euro bereit, das entspricht etwa 30 Prozent der geplanten Baukosten. Der Rest soll über Kredite finanziert werden, für die der Staat in Teilen bürgen will – also der polnische Steuerzahler. Neben der Anlage an der Ostsee plant Polen noch ein weiteres Kraftwerk mit drei Blöcken 100 Kilometer von Łódź entfernt. Außerdem ist das Land offen für neuartige kleine, in Masse gefertigte Reaktoren, die dadurch besonders günstig sein sollen, sogenannte SMRs (small modular reactors). Orlen Syntheo Green Energy will Anlagen von GE Hitachi bauen. Das japanisch-amerikanische Unternehmen liefert im Prinzip geschrumpfte Standardreaktoren mit bis zu 300 Megawatt Leistung.
Acht Kilometer entfernt von der AKW-Baustelle entstand zuletzt ein anderer Teil von Polens Energiewende: Hinter dem Küstenwald enden die Unterseekabel von Windparks in der Ostsee. Derzeit machen erneuerbare Energien rund 30 Prozent des Strommixes aus. Wären beide Atomkraftwerke schon fertig, lieferten sie weitere bis zu 40 Prozent. So weit die Theorie. Jetzt muss ernsthaft gebaut werden. Und was noch fehlt, ist ein Endlager für den Atommüll.
Salzburger Nachrichten





