Mit 32 Projekten befinden sich in China mehr Kraftwerke in Bau als im Rest der Welt. Außerhalb des Reiches der Mitte werden die in Betrieb befindlichen Reaktoren daher immer älter.
Der globalen Vermessung der Nuklearindustrie hat sich Mycle Schneider bereits vor Jahrzehnten angenommen. Nun präsentierte er mit dem „World Nuclear Industry Report 2025“ die 20. Auflage des jährlichen erscheinenden Werks über den Zustand der weltweiten Nuklearindustrie. „Energie- und Atompolitik ist ein langfristiges Thema“, erklärt Schneider, der die Studie mit 14 anderen Autoren von vier Kontinenten verfasst hat. Analysen müssten über viele Jahre wiederholt werden, damit sie eine Aussagekraft erhalten. Und diese lautet: Die Atomkraft ist weltweit auf dem Rückzug. „Der Eindruck, dass es in den letzten Jahren aufwärtsgegangen ist, ist nur durch das chinesische Ausbauprogramm entstanden“, sagte er am Donnerstag.
Und so sieht es Schneider zufolge derzeit aus: Insgesamt haben bisher 36 Staaten auf Atomkraft zur Energieproduktion gesetzt. Fünf Länder haben inzwischen wieder die Finger davon gelassen, zuletzt Taiwan, wo im Mai der letzte Reaktor vom Netz genommen wurde. Unter die Atomkraft nutzenden Staaten haben aktuell bloß acht laufende Bauprojekte, während es in den verbleibenden 23 Ländern derzeit keinen Ausbau gibt. Insgesamt hat im Vorjahr die weltweite Stromproduktion durch Atomkraft den bisherigen Spitzenwert aus dem Jahr 2006 erstmals, wenngleich nur leicht, übertroffen.
Die Ursache für den neuen Höchstwert ist laut Schneider, der als unabhängiger Berater für Energie- und Atompolitik tätig ist, in der weltweit zweitgrößten Wirtschaftsmacht zu suchen: „China hat eine absolute Ausnahmerolle bei Atomkraftwerken.“ Ohne das Atomprogramm im Reich der Mitte würde die Stromproduktion weit unter dem alten Höchstwert von 2006 liegen. Insgesamt, also auch mit China, ist der weltweite Anteil an der Stromerzeugung trotzdem langfristig am Rückzug: Den Höchstwert erreichte er 1996 mit 17,5 Prozent, im Vorjahr lag er nur noch bei neun Prozent.
China stemmt sich gegen diesen Trend. Seit 2005 wurden weltweit 104 Atomkraftwerke hochgefahren, im selben Zeitraum aber auch 101 wieder stillgelegt. Im Reich der Mitte sieht es ganz anders aus: 51 Reaktoren gingen in diesem Zeitraum in Betrieb, während keines vom Netz genommen wurde. Das Gefühl, es gebe einen Boom bei dem Bau von Atomkraftwerken, täuscht also. „Außerhalb Chinas passiert recht wenig auf der Welt“, sagte Schneider über die Entwicklung. Im Rest der Welt befinden sich 31 Kraftwerke in Bau, allein in China hingegen 32.
Das hat auch Auswirkungen, denn wenn man keine neuen Reaktoren baut, steigt das Alter der Flotte stetig an. Dementsprechend sind Chinas Atomkraftwerke mit einer durchschnittlichen Betriebsdauer von etwas mehr als zehn Jahren die jüngsten. Zum Vergleich: In Südkorea liegt dieser Wert bei 24 Jahren, in Russland bei 31 Jahren. Wesentlich betagter sind die Reaktoren in Frankreich mit fast 39 Jahren im Mittel, in den USA gar mit mehr als 43 Jahren.
Längere Bauzeiten
Wobei auch die Zeitpläne bestehender Projekte fast nie halten: Innerhalb der vergangenen zehn Jahre wurden Schneider zufolge 19 Projekte vollendet. Bei diesen betrug die geplante Bauzeit ursprünglich etwa fünf Jahre, tatsächlich sind es mit 10,8 Jahren mehr als das Doppelte geworden. Wobei nicht alle vollendet werden. Die Höchstzahl in Bau befindlicher Kraftwerke wurde 1977 mit 44 Projekten erreicht, davon ist ein Viertel niemals ans Netz gegangen. Darunter befand sich auch das in Österreich geplante AKW Zwentendorf, das nach Ablehnung der Bevölkerung in der Volksabstimmung des Jahres 1978 zu einem gestrandeten Investment wurde.
Nicht erfüllt haben sich übrigens die in kleine modulare Reaktoren (SMR) gesteckten Hoffnungen. In China und Russland sind Schneider zufolge jeweils einer in Betrieb, wobei sich diese durch hohe Kosten bei niedriger Performance auszeichneten. „Bisher ist die Bilanz nicht sehr glamourös“, sagte der Experte. „Beide sind sehr, sehr enttäuschend in der Performance.“
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