Ist es Zeit, die leidige Merit Order doch zu kippen?

19. Dezember 2025, Wien

Analyse. Das Prinzip der Merit Order ist ökologisch sinnvoll, treibt aber oft den Strompreis. Die Regierung will es kippen. Zurecht?


In ihrem Vorhaben, die Strom- und Energiekosten nachhaltig zu senken und so die immer noch hohe Inflation in den Griff zu bekommen, versucht die österreichische Bundesregierung derzeit gleich an mehreren Stellschrauben zu drehen. Am Dienstag hat ja der Nationalrat in einer Sondersitzung die Senkung der Elektrizitätsabgabe beschlossen – eine Maßnahme, die Anfang 2026 umgesetzt wird, Ende 2026 aber wieder ausläuft. Kurz davor war das Elektrizitätswirtschaftsgesetz beschlossen worden, und auch der Industriestrom-Bonus sei Teil eines Bündels an Maßnahmen, so Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP).


Zu diesem Bündel würde auch die sogenannte Merit Order bzw. eine mögliche Reform derselben gehören. Doch ob sie wirklich reformiert wird, steht in den Sternen. Im Vorfeld der Sondersitzung hatte die Regierung einen Brief an die EU-Kommission angekündigt, in dem ein Ende des Merit-Order-Prinzips am Strommarkt gefordert wird. Noch immer würden nämlich fossile Energieträger den Marktpreis bestimmen, kritisierte Stocker. Von der hierzulande günstiger produzierten erneuerbaren Energie könnten die Österreicher daher nicht ausreichend profitieren, sagte Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger. SPÖ-Chef Andreas Babler bezeichnete die Merit Order gar als „irrsinniges Prinzip“.


Gewinner und Verlierer


Doch warum regt Merit Order so auf? Wie funktioniert sie? Wozu ist sie da?
Beim Merit-Order-Prinzip – ein Mechanismus, mit dem im europäischen Großhandel an der Strombörse der Preis gefunden wird – wird der Strompreis immer von der Anlage bestimmt, die zur Deckung des Strombedarfs notwendig ist. Konkret wird zuerst das günstigste Kraftwerk eingeschaltet, dann das zweitgünstigste und so weiter, bis letztlich genügend Strom zur Verfügung steht. Das letzte zugeschaltete Kraftwerk, im Winter eben oft ein Gaskraftwerk, bestimmt dann den Preis aller.


Durch die Berechnung des Strompreises anhand des zuletzt zugeschalteten Kraftwerks hat der Betreiber des günstigsten Kraftwerks den höchsten Gewinn. Die Merit-Order sorgt also dafür, dass jeder Betreiber bemüht ist, über möglichst günstige und effiziente Kraftwerke zu verfügen. Damit wird der Umstieg auf Kraftwerke mit erneuerbarer Energie forciert. Der Nachteil: Wenn die übrigen Kraftwerkskapazitäten nicht reichen, lässt bei hohen Gaspreisen bereits ein kleines Gaskraftwerk den Strompreis in die Höhe schnellen. Und das macht dann – wie in den vergangenen Jahren oft passiert – eben auch erneuerbaren Strom trotz geringer Herstellungskosten extrem teuer.
Nicht zufällig wurde das Merit-Order-Prinzip auch bereits auf europäischer Ebene in Frage gestellt – am Ende aber beibehalten. Macht das Prinzip also doch Sinn?


Vorteile und Nachteile


Die Merit Order hat ihre Vorteile, da sie in wirtschaftlich normalen Zeiten auch gut funktioniert und einen starken Anreiz für den Ausbau erneuerbarer Energien bis hin zum Vollausbau schafft. Bis dahin ist es aber ein weiter Weg, auf dem Gas noch eine Rolle spielt. Und so lange das so ist, reagiert der Strompreis eben auch auf den Gaspreis, der in den letzten Jahren zeitweise extrem hoch war. Damit kommen auch Ökostrom-Bezieher in so einer Situation zum Handkuss, während gerade Stromerzeuger aus erneuerbaren Quellen hohe Gewinne erzielen.


„Eine Alternative zur Merit Order wäre beispielsweise die kapazitätsorientierte Merit Order“, erklärte Michael Böheim vom Wifo im „Presse“-Gespräch schon im Jahr 2022, als die Preise nach oben geschnellt waren. In diesem Modell würden die angebotenen Preise zudem nach dem Anteil des Energieträgers im Strommix gewichtet. Ist nur ein Gaskraftwerk am Netz, würden dessen hohe Kosten weniger ins Gewicht fallen.


In einem „Pay as bid“-Modell wiederum bekämen Produzenten den Preis, zu dem sie Strom angeboten haben. Damit blieben die Strompreise auch in Zeiten hoher Gaspreise günstiger. In Zeiten normaler Gaspreise aber lägen sie über den Preisen, die die Merit Order hervorbringt. Denn in diesem Auktionsmodell ergibt sich der Preis als Mittel der bezuschlagten Gebote. Anbieter haben so einen Anreiz, zu mehr als ihren Grenzkosten anzubieten.


Und so haben Experten während der Diskussion rund um die EU-Strommarktreform mehrheitlich vor einem Abgehen vom Merit-Order-Prinzip gewarnt. Der Ökonom Georg Zachmann von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel zum Beispiel meint, dass sich der Preis auch in einem alternativen System auf den Preis der teuersten Energiequelle einpendeln. „Das ist eine ökonomische Gesetzmäßigkeit“, so Zachmann damals. Zachmann glaubt offenbar nicht an die preisdämpfende Wirkung in einer konkurrierenden Marktwirtschaft und meint, dass man das Merit-Order-Prinzip dauerhaft nur aussetzen könne, „wenn man den Markt radikal zentralisiert“ und der Staat quasi in alle Vertragsbeziehungen eingreifen könne.


Und die EU-Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) hat 2022 festgestellt, dass alternative Preisbildungsmechanismen zu einer ineffizienten Einsatzreihenfolge führen würden. Laut ACER war die Energiekrise 2022 nicht auf Fehler im Marktdesign zurückzuführen. Im Gegenteil: die Marktregeln hätten dazu beigetragen, die Krise abzumildern, sodass Stromdrosselungen oder gar Blackouts ausblieben.

(APA/red.)

Die Presse