Interview. Wichtiger als staatliche Hilfen sei jedoch der Inflationsausgleich im Rahmen der Lohnrunde,
sagt Wifo-Chef Gabriel Felbermayr.
Die Presse: Sie meinten unlängst, dass es zu einer Inflation von bis zu 18 Prozent im Winter kommen kann, wenn es Probleme bei der Gasversorgung gibt. Gazprom dreht regelmäßig am Gashahn. Wird es so kommen?
Gabriel Felbermayr: Die Gaspreise sind jetzt schon sehr hoch, weil der Markt ein Lieferende einpreist. Eine Prognose ist hier daher mit hoher Unsicherheit behaftet. Angenommen ab 1. Oktober fließt kein Gas mehr, dann würde es in den Monaten darauf Inflationsraten in der Größenordnung von deutlich über zehn Prozent geben. Die Jahresrate für 2023 würde dann ebenfalls auf knapp zehn Prozent steigen, mit monatlichen Werten durchaus darüber. Und das wäre eine Verdoppelung von dem, was wir ohne Gasstopp erwarten.
Denn eigentlich prognostiziert das Wifo für 2023 eine leichte Abschwächung der Inflation.
Genau. Und die Gründe für diese Entlastung bleiben ja auch bei einem Gaslieferstopp intakt. Das betrifft etwa Industrierohstoffe, auch Lebensmittel und vor allem Erdöl. Hier war der Preis schon im März 2022 sehr hoch, beim Jahresvergleich wird die Steigerung ab März 2023 daher deutlich geringer ausfallen. Selbst wenn der Gaspreis noch einmal massiv nach oben geht, gibt es also Entlastungen in anderen Bereichen.
Die Inflationsrate soll laut Ihnen dennoch lang über dem EZB-Ziel von zwei Prozent liegen. Was heißt das genau?
Unsere Mittelfristprognose reicht bis 2026. Und in diesem Zeitraum ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Inflationsrate dort hinkommt, wo die EZB sie haben will.
Je länger die Teuerung andauert, desto dringlicher stellt sich die Frage, wer dafür bezahlen muss. Derzeit werden viele Hilfen der Regierung noch „mit der Gießkanne verteilt“. Wird sich das aufrechterhalten lassen?
Die Hilfen sind die eine Sache, viel wichtiger ist aber die Frage, wie die Löhne sich anpassen werden. Die Gewerkschaften werden ja auf einen Erhalt der Kaufkraft drängen. Das betrifft nicht das laufende Jahr, da sind die Reallohnverluste schon da. Wenn die Löhne aber ab 2023 stark steigen, wird ein Teil der Kaufkraftverluste aufgefangen. Das ist auch viel wichtiger als die staatlichen Hilfen.
Das würde für den Herbst Lohnsteigerungen im Ausmaß von sechs bis acht Prozent bedeuten. Ist das für die Unternehmen verkraftbar?
Laut der Benya-Formel sind es die Inflationsraten der vergangenen zwölf Monate — das wären dann etwas über sechs Prozent. Ob die Unternehmen das verkraften, kann man nicht allgemein sagen. Manche Firmen können die Preissteigerungen gut an ihre Kunden weitergeben. Andere stehen im internationalen Wettbewerb und haben hier wesentlich mehr Probleme. Allerdings kann der Staat unterstützend eingreifen und hat das etwa durch die Abschaffung der kalten Progression auch gemacht. Dadurch wird es leichter, den realen Wert der Löhne bei einer nominellen Inflationsanpassung zu erhalten. Der Staat hat in der aktuellen Phase auch die tiefsten Taschen. Denn die Bemessungsgrundlagen für die Inflation wachsen ja mit der Inflation mit. Und daher gibt es auch höhere Steuereinnahmen.
Von Wirtschaftsvertretern werden immer wieder Einmalzahlungen ins Gespräch gebracht. Eine sinnvolle Maßnahme?
Sie wären sinnvoll, wenn man annehmen könnte, dass die Preise zurückgehen und die Belastung nur temporär ist. Zurückgehen wird jedoch nur die Steigerungsrate, eine negative Entwicklung bei den Preisen sehen wir nicht. Einmalzahlungen würden somit nicht für einen Erhalt der Kaufkraft sorgen. Allerdings möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass die Abschaffung der kalten Progression eine wichtige Maßnahme ist, für die der Staat viel Geld in die Hand nimmt. Das muss in den Verhandlungen auch wahrgenommen werden.
Noch einmal zu den staatlichen Hilfen: Ist das Vorgehen mit der „Gießkanne“ hier sinnvoll?
Wir treten für möglichst zielgerichtete Hilfen ein. Der Staat sollte jenen helfen, die die Hilfe dringend brauchen. Das bedeutet aber nicht, dass es hier nur um die ärmsten zehn Prozent der Einkommensschicht geht. Der Hilfsbedarf geht bis weit in die Mittelschicht. Eigentlich betrifft es die gesamte untere Einkommenshälfte. Da geht es darum, den Konsum aufrechtzuerhalten. Höhere Einkommensschichten schaffen das auch ohne Hilfen, bei ihnen sinkt dann eben die Sparquote. Für die Betroffenen fühlt sich das verständlicherweise jedoch auch nicht gut an.
Schon seit Langem wird eine Erosion der Mittelschicht befürchtet. Könnte dies durch die Inflation nun wirklich kommen?
Das hängt von den Lohnsteigerungen ab. Die Mittelschicht erzielt ihr Einkommen vornehmlich aus Arbeit. Wenn die Inflation hier nun zu Reallohnverlusten führt, ist das schlecht für die Mittelschicht. Ich sehe jedoch wenig Gründe, warum die Durchschnittslöhne nun nicht im Ausmaß der Inflation steigen sollten. Was jedoch klar ist, ist, dass uns die aktuelle Situation in Summe ärmer macht. Ohne die hohen Kosten für importierte Energie wären die Reallöhne um zwei Prozent gewachsen. Im Vergleich zu einer Welt ohne Energiepreiskrise werden wir also an Wohlstand verlieren.
Wie verteilen sich diese Verluste in der Einkommenspyramide?
Am oberen Ende werden sie wahrscheinlich geringer ausfallen als am unteren. Vor allem im Niedriglohnsektor können sie stärker sein, wenn Unternehmen zum Beispiel im Gegenzug zu Lohnsteigerungen die Stundenzahlen reduzieren. In Summe kann sich die Ungleichheit also erhöhen, aber es führt nicht zwingend zu einer Aushöhlung der Mitte. Das wäre nämlich auch das schlimmste denkbare Szenario — gesellschafts- und demokratiepolitisch.
Wer gehört eigentlich zur Mittelschicht?
Hier gibt es keine eindeutige Definition. Am ehesten passen wohl jene 60 Prozent der Einkommensverteilung, die über den ärmsten 20 Prozent und unter den obersten 20 Prozent liegen.
Die von Ihnen initiierte Strompreisbremse soll bald kommen. Laut Aussagen von Bundeskanzler Karl Nehammer ist eine soziale Staffelung hier kaum möglich. Ist das ein Problem?
Bei der Preisbremse gibt es zwei wichtige Themen. Erstens: ob die Haushaltsgröße berücksichtigt werden kann. Es macht einen riesigen Unterschied, ob eine oder fünf Personen in einem Haushalt leben. Hier gibt es sonst die Gefahr, dass bei Einpersonenhaushalten der gesamte Stromverbrauch subventioniert wird. Zweitens: die soziale Staffelung. Hier könnten die Netzbetreiber vielleicht auf die Daten der GIS-Befreiung zurückgreifen.
Bei sämtlichen Hilfen fällt auf, dass der Staat anscheinend keine genauen Daten zu den konkreten Haushaltseinkommen hat. Haben wir ein Datenproblem?
Der Staat hat grundsätzlich super Daten. Aber sie sind verstreut und dürfen oft auch gar nicht zusammengeführt werden. Eigentlich brauchte man nur das Zentrale Melderegister mit der Steuerstatistik zu verschrauben. Dann wüsste man, welches Einkommen in welchem Haushalt vorliegt. Das Hauptproblem bei der fehlenden Verknüpfung sind die rechtlichen Voraussetzungen. Hier sollte es einmal einen breiten politischen Konsens geben, um künftig die Möglichkeit für zielgerichtete Interventionen zu schaffen. Dass das ein Problem ist, haben wir auch schon während der Coronapandemie gesehen.
Der Sommer hat erneut die Folgen des Klimawandels drastisch gezeigt. Sollte man bei fossilen Energieträgern nicht auch höhere Preise wirken lassen, um mehr Effizienz zu schaffen?
Ja, deswegen haben wir uns auch gegen eine Spritpreisbremse ausgesprochen. Aber bei Gas haben wir mittlerweile Preissteigerungen jenseits von Gut und Böse, die auf den Strompreis durchschlagen. Hohe Gaspreise sind auch für die Energiewende schlecht, weil Kohle wieder viel attraktiver wird.
Eine andere Diskussion ist zuletzt über die Sanktionen ausgebrochen. Hier haben sich Oberösterreichs Landeshauptmann, Thomas Stelzer, und der Tiroler ÖVP-Chef, Anton Mattle, so geäußert, dass die Sanktionen infrage gestellt werden sollten, wenn es im Herbst zu Energieengpässen kommt. Was halten Sie von dieser Meinung?
Es ist immer gut, Sanktionsregime auch zu hinterfragen. Aber es wäre naiv zu glauben, dass das Gas wieder fließt, wenn wir dort und da lockern. Ich meine, die Sanktionen sind für Russland gar nicht das zentrale Problem. Was Russland wirklich ärgert, ist die militärische und ökonomische Hilfe für die Ukraine. Außerdem ist der Kreml derzeit nicht paktfähig. Mehr Gas gegen Reisefreiheit für Oligarchen? Das geht sich nicht aus. Außerdem hätte Putin dann mit seiner Erpressungstaktik gewonnen.
Viele in Österreich meinen, dass wir uns mehr selbst schaden als Russland. Ist dem so?
Aktuell ist es mit Sicherheit nicht so. Russland hat eine kräftige Rezession, und wir haben ordentliches Wachstum. Selbst wenn ab Oktober kein Gas mehr kommt, dann wird es 2023 einen Konjunktureinbruch um 2,5 Prozent geben. In Russland reden wir über Größenordnungen von zehn Prozent. Sanktionen nützen natürlich niemandem wirtschaftlich. Der Schaden in Russland ist aber mindestens so hoch oder höher. Und er ist nachhaltig. Bei uns ist der Ausstieg aus dem Gas ohnehin geplant. Er kommt jetzt eben früher. Das ist teuer und mühsam, bringt uns aber früher an unser Ziel. Für Russland hat das Kaputtschrumpfen der Wirtschaft überhaupt keinen langfristigen Mehrwert.
von Jakob Zirm
Die Presse