Strommarkt: Eingriff an heikler Stelle

31. August 2022

In Dänemark traf man sich gestern zum Mini-Gipfel: Staats- und Regierungschefs aus Polen, Litauen, Estland, Lettland, Finnland und eben Dänemark verhandelten über stärkere Zusammenarbeit bei der Errichtung von Offshore-Windparks in der Ostsee und im baltischen Meer; nach dem Muster könnten ähnliche Projekte auch im Schwarzen Meer oder in der Ägäis entstehen. Beim Treffen dabei: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Die Brüsseler Behörde ist Dreh- und Angelpunkt der europäischen Energiepolitik, obgleich die Kompetenz für dieses Thema nach wie vor bei den Mitgliedsländern liegt.

Tags zuvor hatte von der Leyen aufhorchen lassen: Wie berichtet, sprach sie bei einer Konferenz im slowenischen Bled und später im deutschen Wirtschaftsministerium in Berlin zunächst von einem „Notfallinstrument“ zur Senkung der Energiepreise sowie von einer „tief greifenden, strukturellen Reform des Strommarktes“. Beides brauche freilich Zeit – die Sofortmaßnahme „einige Wochen“, die Reform selbst sei zu Beginn kommenden Jahres vorstellbar.

Damit scheint bereits klar zu sein, dass beim vom tschechischen Ratsvorsitz für die kommende Woche einberufenen Sonder-Rat der Energieminister noch keine Entscheidungen zu erwarten sind. Vielmehr gehe es darum, die Positionen der Mitgliedsländer auszuloten, deren Energiemix höchst unterschiedlich konstruiert sei, hieß es gestern von der Kommission. „Wir müssen zwei Dinge ausbalancieren – die Interessen der Konsumenten, also der Bürger, und jene der Industrie“, so ein Sprecher der Behörde. Die erarbeiteten Vorschläge müssten zur „Komplexität des Energiemarktes passen“. Somit könne man sich derzeit auch nicht auf konkrete Punkte wie etwa Preisdeckel oder eine Abkoppelung des Gaspreises von den anderen Energieformen festlegen.

Den Vorwurf, die Kommission habe zu lange zugewartet und werde erst jetzt auf Zuruf Deutschlands aktiv, wies der Sprecher zurück: Schon letzten Oktober, noch vor Kriegsbeginn gegen die Ukraine, habe man bereits die „Toolbox“ gegen steigende Energiepreise vorgestellt, damals freilich noch angesichts der steigenden Gas-Nachfrage wegen des Wirtschaftsaufschwungs nach der Pandemie. Darin enthalten ist unter anderem das Ziel, dass alle EU-Staaten bis März 2023 15 Prozent der Energie einsparen sollen. Weitere Schritte seien dann bei den EU-Gipfeln im Frühjahr und Sommer erfolgt.

Von der Leyen sprach von einer „Wiederherstellung des Gleichgewichts“ durch ein neues Elektrizitäts-Marktmodell: „Die durch die Decke gehenden Strompreise zeigen uns nun die Grenzen unseres Strommarkts auf. Er wurde unter völlig anderen Voraussetzungen und für völlig andere Zwecke konzipiert. Er wird seinem Zweck nicht länger gerecht.“
Rasmus Andresen, Delegationssprecher der Grünen im EU-Parlament, forderte dennoch ein höheres Tempo ein: „Die Vorschläge müssen nun schnellstmöglich auf den Tisch, noch vor dem Sondertreffen der Energieminister.“ Dort müsse ein EU-weiter Gasdeckel beschlossen werden, der jedoch nur den Grundbedarf abdecke – um Sparanreize zu schaffen – und an Einsparziele gekoppelt ist. Zuletzt hatte auch der deutsche Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) einen Gaspreisdeckel nicht mehr ausgeschlossen.

Einzelgänge der EU-Mitgliedsländer seien aber nicht sinnvoll, hielt der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) fest. Auch der österreichische Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) hatte sich kürzlich für eine EU-weite Lösung ausgesprochen. Das Ministertreffen kommende Woche wird also in erster Linie dazu dienen, die unterschiedlichen Befindlichkeiten der Länder auf einen Nenner zu bringen. Bisher hatten es Spanien und Portugal geschafft, von der Kommission eine Ausnahmeregelung zu erhalten, die die Gaspreise mehr oder weniger halbiert. Die Stromnetze der Iberischen Halbinsel sind nur marginal mit dem Rest Europas verbunden, dadurch ergibt sich eine sehr geringe Abhängigkeit von Gaslieferungen. Die Ausnahme hatte ursprünglich Argwohn unter anderen EU-Ländern hervorgerufen. Der tschechische Ministerpräsident und aktuelle Ratsvorsitzende Petr Fiala sagte nun diesen Montag, dass der sehr starke Anstieg der Strompreise mittlerweile auch EU-Länder umdenken lasse, die vorher skeptisch gegenüber Markteingriffen gewesen seien.

Nach Monaten des Zuwartens will die EU nun doch in den sensiblen Strommarkt eingreifen – zunächst mit einem noch nicht näher definierten „Notfallinstrument“, mittelfristig über eine Reform der Grundstruktur. Beides braucht aber Zeit.

Kleine Zeitung

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