Energie. Ein Energiesystem ohne „grünes“ Gas ist noch nicht machbar. Österreich muss auch seine Netze darauf vorbereiten.
Seit einigen Tagen hat in Österreichs Wirtschaftswelt das große Aufatmen begonnen. Der befürchtete Horrorwinter mit globaler Rezession und lokalem Gasnotstand ist abgesagt. Die Weltwirtschaft ist robuster als gedacht, und hohe Temperaturen und volle Speicher drängen die Gaskrise in den Hintergrund. Zwar sind Österreichs Speicher immer noch zu 70 Prozent mit russischem Erdgas gefüllt, von Unabhängigkeit zu reden wäre also vermessen. Aber wenn die Suche nach alternativen Lieferanten gut vorangeht, sollte das schon klappen, so die Hoffnung.
Doch ganz so einfach ist es nicht, warnt Bernhard Painz, der als Vorstand der Austria Gas Grid Management (AGGM) für die Steuerung der Gasflüsse im Land verantwortlich ist. Selbst wenn es gelingen sollte, alle russischen Gaslieferungen zu ersetzen, fehlt es immer noch an Transportkapazitäten, um das Gas über Deutschland und Italien auch ins Land zu bringen. Sind die Speicher im Frühjahr etwa nur noch zu einem Fünftel gefüllt, gibt es nicht genug Leitungen, um die Speicher bis in den Herbst wieder auf die angestrebten 90 Prozent zu bringen, so die AGGM. Vor allem bei der Ost-West-Verbindung aus Deutschland (WAG) müssten noch Lücken im Netz geschlossen werden, um die Kapazitäten um die Hälfte auszuweiten. Das Problem: Dieses Projekt der RAG findet sich zwar im Infrastrukturplan der AGGM wieder, hat aber noch kein grünes Licht vom Regulator E-Control bekommen.
2040 noch großer Gasbedarf
Viele andere Ausbauprojekte im Gasnetz teilen dieses Schicksal, dabei wäre es höchste Zeit, die Infrastruktur auf die kommenden Herausforderungen vorzubereiten, mahnt AGGM-Vorstand Michael Woltran. „Ein erneuerbares Energiesystem, das vollständig auf gasförmige Energieträger verzichtet, ist nach heutigem Wissensstand nicht umsetzbar.“ Wind, Sonne und ein paar Batterien werden nicht ausreichen, um rund um die Uhr verlässlich mit Energie versorgt zu sein. Auch die Österreichische Energieagentur rechnet damit, dass in einer emissionsfreien Energieversorgung des Landes im Jahr 2040 noch 89 bis 138 Terawattstunden Gas als Energiespeicher, Industriebrennstoff und Stabilisierung für die Stromversorgung benötigen werden. Diese 89 bis 138 TWh Gas müssten dann freilich grüner Wasserstoff oder synthetisch erzeugtes Biogas sein. Doch auch dafür muss die Infrastruktur vorbereitet werden.
Grundsätzlich ist es möglich, nach kleinen Umrüstungen in einer Gaspipeline auch Wasserstoff zu transportieren. Die Industrie signalisiere schon ab 2025 stark steigenden Bedarf nach dem CO2-neutralen Energieträger, zitiert die AGGM aus einer aktuellen Umfrage. Vor allem die großen Industriecluster in Oberösterreich, Niederösterreich und der Steiermark müssten daher schon bald mit Wasserstoffleitungen versorgt werden. Zudem könnten die großen Gasspeicher im Land künftig als H2-Lager verwendet werden. Doch die Zeit drängt, so die Botschaft der Branche: „Wenn wir weiter Gasdrehscheibe Europas sein wollen, müssen wir jetzt beginnen“, sagt Woltran.
Wer darf H2—Leitungen bauen?
Projekte gäbe es genug: Bis 2035 müssten 190 Kilometer H2-Leitungen neu gebaut und mehr als 1000 Kilometer des bestehenden Gasnetzes adaptiert werden. Die Umwidmung eines Strangs der TAG nach Italien für den Wasserstofftransport könnte diese Route ab 2030 ermöglichen. Der Lückenschluss bei der WAG schaffe die Möglichkeit, auch aus Deutschland Wasserstoff zu importieren. Zudem soll bis 2026 die erste reine H2-Leitung von einem großen Elektrolyseur im Nordburgenland nach Wien realisiert werden.
Derzeit ist noch keines dieser Projekte fix. Der aktuelle regulatorische Rahmen sei „investitionsfeindlich“, klagen die AGGM-Vorstände. Das liege auch an der EU, die noch nicht entschieden hat, ob Gasnetzbetreiber in Wasserstoffleitungen investieren dürfen, sowie am Zögern von Politik und Regulatoren in der Heimat. „Wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen, können wir es uns nicht leisten, auf irgendeine Form der erneuerbaren Energie zu verzichten“, erinnert Michael Woltran. „Lasst es uns einfach probieren.“
von Matthias Auer
Die Presse