Gas. Statt seine Abhängigkeit vom Kreml zu beenden, zahlt Europa Moskau Milliarden für eine Rekordmenge an russischem Flüssiggas.
Politisch ist die Sache durch: Wladimir Putin hat sich und sein Land mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine in den Augen der europäischen Regierungschefs als Gaslieferant disqualifiziert. Spätestens seit der Energiekrise des Vorjahrs steht das Ende der Rohstoffabhängigkeit von Russland offiziell ganz oben auf der Agenda der Union.
Tatsächlich konnte Brüssel rasch erste Erfolge vorweisen: Dass die Gasimporte aus Russland von 40 auf neun Prozent gefallen waren, bejubelte man schon vor einem Jahr. Länder wie Österreich, die immer noch zwei Drittel ihres Gases in Moskau kaufen, mussten einiges an Kritik einstecken. Doch nun stellt sich heraus: Auch der Rest Europas ist Moskau näher geblieben als bisher gedacht.
40 Prozent mehr LNG
Die meisten Pipelinerouten sind mittlerweile zwar geschlossen. Erst vor einem Jahr setzte eine mysteriöse Explosion die Nord Stream 1, eine der wichtigsten Gasleitungen in die EU, außer Gefecht. Doch Europa kehrte Russland nie ganz den Rücken. Im Gegenteil: In den ersten sieben Monaten des Jahres importierte die Union so viel tiefgekühltes Flüssiggas (LNG) aus Russland wie nie zuvor, heißt es in einer Analyse von Global Witness. Die Mengen stiegen demnach auf 22Mio. Kubikmeter Flüssiggas. LNG ist stark verdichtet, ein Kubikmeter entspricht über 600 Kubikmetern Erdgas. In Summe kam heuer um 40 Prozent mehr Flüssiggas aus Russland in die EU als im selben Zeitraum 2021. Nur die Vereinigten Staaten von Amerika lieferten noch mehr (siehe Grafik).
Die Pipeline-Importe früherer Jahre konnten die russischen Lieferungen auf dem Seeweg freilich nicht ersetzen, wie auch die tiefrote Bilanz des russischen Gaskonzerns Gazprom zeigt. Der Einbruch der Gasexporte nach Europa bescherte dem staatlich kontrollierten Branchenriesen im zweiten Quartal ein Minus von 18,6 Milliarden Rubel (180,4 Millionen Euro).
5,3 Milliarden nach Moskau
Dennoch konterkarieren Länder wie Spanien oder Belgien, die hinter China bereits die beiden größten Abnehmer russischen LNG sind, mit ihrer Einkaufspolitik die Unabhängigkeitsbestrebungen der EU. In Summe überwiesen EU-Staaten heuer bereits 5,3 Milliarden Euro für Flüssiggasimporte nach Moskau und finanzierten damit indirekt auch den russischen Krieg gegen die Ukraine mit.
Etliche EU-Politiker fordern daher einen kompletten Importstopp von russischem Gas, wie es ihn für Öl und Kohle bereits gibt. Europa „kann und sollte so bald wie möglich von russischem Gas loskommen“, sagte etwa die Energiekommissarin der EU, Kadri Simson. Derzeit sieht der Fahrplan vor, ab 2027 auf sämtliche Gasimporte aus Russland verzichten zu können.
Die Sorge davor, dass Erdgas in Europa knapp werden könnte, lässt die EU jedoch vor einem Verbot von Gasimporten zurückschrecken. Etliche Staaten (darunter auch Österreich) könnten so bald keinen vollständigen Ersatz für den langjährigen Lieferanten finden. So verstärken die Großeinkäufe bei Moskau aber auch die Abhängigkeit Europas vom volatilen LNG-Markt. Was das für die kommenden Jahre bedeuten kann, hat die vergangene Woche gezeigt: Schon vage Streikdrohungen in australischen LNG-Anlagen waren genug, um die Erdgaspreise in Europa wieder verrückt spielen zu lassen. Solang Gaskraftwerke im europäischen Stromsystem eine so entscheidende Rolle spielen wie heute, dürften auch die Strompreise unter der Volatilität auf dem globalen Flüssiggasmarkt leiden.
Etliche Analysten zeigten sich zuletzt von der ausgeprägten LNG-Strategie der EU nicht überzeugt. Der US-Thinktank IEEFA warnte etwa davor, dass Europa in seiner Panik zu viele LNG-Häfen gleichzeitig baue und am Ende mit ungenutzten Terminals dastehen werde. Die Experten schätzen, dass Europa 2030 Kapazitäten für 400 Milliarden Kubikmeter LNG aufgebaut haben werde. Die Nachfrage schätzen sie hingegen auf 150 bis 190 Milliarden ein.
Keine Engpässe erwartet
Für den kommenden Winter geben die meisten Energiefachleute ohnedies Entwarnung. Die europäischen Gasspeicher sind zu über neunzig Prozent gefüllt, und China fällt aufgrund seiner wirtschaftlichen Schwäche als Konkurrent auf dem LNG-Markt aus. Europa sollte also heuer von Gasengpässen verschont bleiben.
Mittelfristig wird der Kontinent aber vor allem seinen Erdgasverbrauch um zehn bis 15 Prozent reduzieren müssen, will er nicht jedes Jahr aufs Neue zittern, ob die notwendigen Mengen (nicht russischen) Gases für den Winter auch verfügbar sein werden.
von Matthias Auer
Die Presse