Energiepolitik. Die Ukraine will nach 2024 kein russisches Gas mehr durchleiten. Kiews Energieminister Galuschtschenko über die Folgen für Österreich, AKW-Ausbau trotz Bomben und die Gefahr eines Atomunfalls
97 Prozent. So hoch war der Anteil Russlands an Österreichs Gasimporten im Jänner – zwei Jahre, nachdem Putin seine Panzer in die Ukraine rollen ließ.
Während Deutschland den Ausstieg aus russischem Gas schon geschafft hat, wird Österreich vielleicht dazu gezwungen: Ende des Jahres endet der Transitvertrag zwischen Kiew und Moskau, der den Transport nach Österreich ermöglicht. Im KURIER-Gespräch bekräftigt der ukrainische Energieminister German Galuschtschenko, dass der Deal nicht verlängert wird – und spricht über die übersehene Gefahr durch das besetzte AKW Saporischschja.
KURIER: Sie waren unter anderem in Wien, um über den auslaufenden Gas-Transitvertrag zu reden. Zugespitzt gefragt: Wird Österreich 2025 das Gas ausgehen?
German Galuschtschenko: Ich verstehe, dass der Gasvertrag hier ein innenpolitischer Faktor ist. Aber die Fragen der Versorgungssicherheit und des Vertrags sind nicht direkt miteinander verbunden – Österreich muss sich fragen, woher es sein Gas beziehen will. Wir werden den Vertrag mit Russland jedenfalls nicht erneuern, das haben wir auch mit EU-Energiekommissarin Simson besprochen. Wie soll das auch gehen? Wir wollen nicht mit den Russen verhandeln, wenn die uns bombardieren.
Eine Möglichkeit wäre, dass EU-Firmen ukrainische Pipelinekapazitäten buchen. So könnte weiter Gas aus Russland nach Europa fließen. Werden Sie das zulassen?
Das ist eine schwierige Frage. Wir haben noch keine konkreten Anfragen von Firmen, und selbst fragen wir verständlicherweise nicht danach.
Aber Sie könnten Infrastruktur zur Verfügung stellen?
Bisher ist das eine theoretische Diskussion. Es geht hier um Österreich, die Slowakei und Ungarn, die Gas aus Russland beziehen. Sie müssen aber verstehen, dass ihre Vertragspartner die Russen sind, die in vielen anderen Bereichen rechtliche Verpflichtungen brechen, das gilt auch für Gasverträge. Die Gazprom ist kein unabhängiges kommerzielles Unternehmen wie die OMV – Putin entscheidet dort.
Hat man das in Wien und Brüssel verstanden?
Ich denke schon. Die Frage, ob Österreich genug Gas haben wird, können wir dennoch nicht beantworten. Ich gehe aber davon aus, dass eine Lösung ohne Russland gefunden werden kann.
Die Ukraine ist am EU-Energiemarkt beteiligt, wird sie sich weiter an die Regeln halten?
Wir spielen ja nach den Spielregeln. In diesem Winter haben wir 30 Terawattstunden (TWh) Gas von Firmen aus europäischen Ländern in unseren Speichern gelagert – EU-konform. Selbst im Krieg hat das funktioniert. Das habe ich auch mit Leonore Gewessler diskutiert: Wir haben die größten Speicher in Europa, könnten 150 TWh anbieten, um Gas zu lagern.
Wir sitzen ja alle im selben Boot: Die Deutschen haben viel mehr russisches Gas bezogen als Österreich, jetzt sind sie fast komplett ausgestiegen – binnen eineinhalb Jahren. Ist das teuer? Ja, natürlich. Aber für die deutsche Regierung ist es wichtiger, die Russen aus dem Markt zu drängen.
Sorgen Sie sich wegen niedriger Gasspeicherstände?
Nein, wir decken den Bedarf weitgehend durch eigene Produktion. Der ist geringer als vor dem Krieg, weil die Industrie weggefallen ist – Asowstal war einer der größte Verbraucher des Landes. Die Russen haben mehrfach versucht, auch die Gasversorgung des Landes lahmzulegen, das ist ihnen nicht gelungen.
Laut Weltbank haben die russischen Massenbombardements vergangenen Winter 50 Prozent der Energieinfrastruktur beschädigt. War die Lage heuer besser?
Diesen Winter haben die Russen ihre Taktik geändert. Sie fokussieren sich auf Regionen, wo Industrie ist, die für Wirtschaftswachstum sorgt – dort griffen sie die Infrastruktur an, um die Produktion anzuhalten. Teils ist ihnen das auch gelungen. Hier danke ich Österreich für die Hilfe, die für uns sehr wichtig in besonders herausfordernden Zeiten war. Die schnelle Hilfe aus Österreich hat vielen Menschen in der Ukraine damals geholfen.
Russland hält ja das AKW Saporischschja besetzt. Rafael Grossi, Chef der Atomenergiebehörde (IAEA), hat kürzlich mit Putin darüber gesprochen – mit Erfolg?
Die Zahl der technischen Probleme steigt jeden Tag, Lösungen gibt es keine. Die Russen sagen, dass es laut ihren Standards kein Problem sei, wenn etwas wo tropft – aber das ist radioaktives Material, das da austritt! Der Oberste Rat der IAEA hat Russland deshalb aufgefordert, das AKW zu verlassen.
Arbeitet dort noch immer ukrainisches Personal?
Bis Februar war das so. Seither wird allen der Zugang verweigert, die sich weigern, einen Vertrag mit der Gazprom zu unterschreiben. 380 Leute sollen dazu gezwungen werden, wichtiges Personal in Management und Technik. Dieses Vakuum macht die Situation noch gefährlicher.
Außerdem läuft die Nutzungsdauer für die Nuklearbrennstoffe bald aus. Die Produkte kommen zu 50 Prozent aus dem Westen, die Russen müssten die Hersteller eigentlich um Erlaubnis für Weiternutzung fragen – oder die Brennstäbe extrahieren. Nur: Wo sollen die gelagert werden? Wenn sich die Situation nicht ändert, ist es nur eine Frage der Zeit, wann es zu einem Zwischenfall kommt.
Statt Saporischschja soll das AKW Chmelnyzkyj ausgebaut werden. Ist das im Krieg nicht zu gefährlich?
Wir haben viel Erfahrung, während des Kriegs neue Infrastruktur zu bauen und treffen Vorkehrungen. Man hätte sich noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, dass die Russen ein Kernkraftwerk mit Panzern und Artillerie angreifen. Jetzt wissen wir, dass sie keine roten Linien kennen. Wir bereiten uns darauf vor, dass sie auch Chmelnyzkyj angreifen.
Ist der Atomausbau nicht eine Gefahr für die Ukraine selbst, weil man den Russen noch mehr Ziele liefert?
Dazu muss man die Struktur des ukrainischen Energiesektors verstehen. Saporischschja ist das größte AKW in Europa. Mit einer Leistung von sechs Gigawatt hat es 44 Prozent des ukrainischen Atomstroms produziert. Aber auch ohne Saporischschja produzieren neun Reaktoren mehr als 55 Prozent des ukrainischen Stroms. Wir haben eine Nuklearindustrie und es liegt auf der Hand, sie auszubauen. Auch bei der Klimakonferenz COP28 wurde festgestellt, dass die weltweite Nuklear-Leistung bis 2050 verdreifacht werden muss, um die Klimaziele zu erreichen.
…und die Sicherheitssituation?
Wenn die Russen AKW angreifen, ist das natürlich gefährlich – wir müssen in der Lage sein, sie zu schützen. Wenn in Saporischschja ein Unfall passiert, könnte das die weltweite Entwicklung der Nuklearenergie beeinflussen. Die Russen greifen auch Wasserkraftwerke an, der Kachowka-Staudamm ist ein gutes Beispiel – auch das ist gefährlich. Militärische Bedrohungen wird es auch nach dem Krieg geben. Die Russen werden nicht verschwinden – und sie könnten es wieder versuchen.
Welche Rolle können dezentrale erneuerbare Energien spielen?
Die Angriffe zielen auf große Kraftwerke, um das Stromsystem zu destabilisieren. Kleinere verteilte Erneuerbaren-Kraftwerke können deswegen einen wichtigen Beitrag leisten, um die kritische Infrastruktur zu versorgen. Wir haben letztes Jahr mehr als 200 Megawatt Windkraft und 200 Megawatt Photovoltaik zugebaut. Offshore-Windanlagen im Schwarzen Meer können derzeit wegen des Kriegs aber nicht gebaut werden. Wir werden zusätzliche dezentrale Gasturbinen installieren.
Sie haben in Österreich Wirtschaftsvertreter getroffen. Gibt es Interesse, in der Ukraine zu investieren?
Wir diskutieren die Teilnahme österreichischer Unternehmen, etwa in den Bereichen Erneuerbare oder auch Gasverstromung.
Wie kann man die Firmen absichern, dass ihre Investitionen nicht verloren geht?
Versicherungen sind ein sehr kompliziertes Thema. Manche Länder übernehmen die Versicherungskosten für ihre Unternehmen, das funktioniert bisher unterschiedlich gut. Es gibt Beispiele für große Unternehmen, die in unseren Markt eintreten, weil sie wissen, dass sich die Luftverteidigung mit der Zeit verbessert. Für sie überwiegen die Perspektiven die Risiken.
Kurier