„Eine asymmetrische Abhängigkeit“

15. Mai 2024

Die Sicherheitsexpertin Velina Tchakarova hält Österreichs Umgang mit russischem Gas für „grob fahrlässig“.

Was, wenn die Ukraine 2025 den Gastransit stoppt? Politanalystin Velina Tchakarova hält das für wahrscheinlich, ebenso wie weitere Gaslieferungen aus Russland, wenn auch über andere Wege als jetzt.

Österreich hat in der EU die höchste Abhängigkeit von russischem Erdgas. Wie riskant ist das? Velina Tchakarova: Österreich ist auch das Land mit der höchsten Inflationsrate bei Gas, mit bis zu 200 Prozent kumuliert von 2021 bis 2024. Dass Energie deutlich mehr kostet, wirkt sich auf die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Industrie aus. Man muss hier Klischees durchbrechen: Zu behaupten, russisches Gas sei billig und zuverlässig und die gegenseitige Abhängigkeit gleich, ist schon grob fahrlässig. Den Preis zahlen Konsumenten und Unternehmen.

Es ist eine asymmetrische Abhängigkeit: Wenn Russland morgen die Lieferung von Gas unterbricht, als geopolitische Waffe, ist das ein Instrument der politischen Einflussnahme. Ein Lieferstopp ist ein ziemlich realistisches Szenario ab Jänner 2025. Womit rechnen Sie, wenn der russisch-ukrainische Transitvertrag Ende 2024 ausläuft? Ich rechne mit allem. Alles ist so volatil, wir haben nicht einmal mehr einen kurzfristigen politischen Horizont. Wir wissen nicht, wie es auf den Schlachtfeldern weitergeht. Russland hat bereits eine neue Offensive gegen Charkiw gestartet, deren Ausgang ungewiss ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Ukraine ab Jänner 2025 kein russisches Gas mehr in die EU durchleiten will, halte ich für hoch. Bei einer solchen politischen Entscheidung stellt sich allerdings die Frage, ob nicht kurzfristig Druck entstehen könnte.

Welche Art von Druck? Laut der derzeitigen EU-Kommission gibt es grünes Licht, dass die Ukraine russisches Gas stoppt. Aber wir haben Ende 2024 eine andere EU-Kommission. Es gibt keine politische Kontinuität, weder auf EU-Ebene noch in Österreich. Auch hier ist unklar, wie die nächste Regierung aussehen wird. Nehmen wir an, die FPÖ kommt an die Macht und schafft es, eine Koalitionsregierung zu bilden. Sie spricht sich bekanntlich gegen den Ausstieg aus russischem Gas und fossilen Energieträgern aus. Dann schließe ich politische Kompromisse nicht aus, dass man für eine bestimmte Zeit noch russisches Gas kauft. Aber das ist reine Spekulation. Könnte die Ukraine den Gastransit als Hebel nutzen, um andere Dinge durchzusetzen? Es würde mich nicht wundern, wenn bestimmte Lobbygruppen das so sehen. Die Ukraine kämpft weiter ums Überleben und will mit allen Mitteln die Finanzierung der Kriegsmaschinerie drosseln. Ein Transitstopp scheint logisch, wenn man bedenkt, dass die Ukraine momentan Ölraffinerien in Russland mit Drohnen angreift – teilweise erfolgreich. Es geht um einen Schlag gegen den Öl- und Gassektor in Russland.

Welche Reaktion erwarten Sie auf der russischen Seite? Russland will Flüssiggas erheblich ausbauen, daher planen die USA Sanktionen gegen neue Projekte, die EU will Re-Exporte verbieten. Die USA und Russland sind derzeit Flüssiggaslieferanten für Europa. Die Nachfrage kann kurz- und mittelfristig von Amerika und dem Nahen Osten nicht erfüllt werden. Daher sind bis zu einem gewissen Grad russisches Erdgas und LNG notwendig. Für Europa ist auch die Pipeline Turkstream relevant, weil sie die einzige bleibt, sollte es zum Transitstopp kommen. Derzeit laufen Verhandlungen über den weiteren Ausbau und der türkische Präsident lässt sich Zeit und will sicher Gewinne für die Türkei herausschlagen. Ich schätze, Russland wird versuchen, sein Gas mit nicht russischem Gas zu mischen und über Turkstream nach Europa zu verkaufen. Im Pipelinesystem zwischen Russland und Zentralasien werden Interkonnektoren gebaut und Europa hat Vereinbarungen geschlossen, etwa mit Aserbaidschan, die Gasmenge zu verdoppeln. Was würden Sie Österreich sicherheitspolitisch raten? Sollte es zum Transitstopp kommen, könnte man höhere Gewalt ins Treffen führen, aus den Verträgen aussteigen und die EU-Plattform für den Einkauf von nicht russischem Gas nutzen. Die EU würde das unterstützen. Uns wird erzählt, wir haben vorgesorgt, es gibt Speicherkapazitäten und Abmachungen mit Deutschland und Italien. Aber man muss das Gesamtsystem betrachten. Und da fürchte ich einen Dominoeffekt, sollte etwa Norwegen kurzfristig kein Gas liefern können oder andere unerwartete Störungen bei der Energieversorgung eintreten. Dann sind Vereinbarungen nutzlos.

Hat Österreich zu langsam reagiert? Ich habe mir im Gasbereich von Kriegsbeginn an kurzfristig nichts erwartet. Das sind verkrustete Strukturen, mit Verpflichtungen, die man nicht kennt. Österreich hätte schon früher die ersten Türchen nutzen müssen. Aber es wurde immer weitergemacht, deshalb ist es jetzt so schwer, den Energiesektor getrennt zu betrachten. Die passiven Direktinvestitionen aus Russland 2023 sind in Österreich Nummer zwei hinter Deutschland. Laut aktuellen Statistiken haben EU-Banken 800 Mill. Euro Steuern für 2023 in Russland bezahlt, 400 Mill. Euro davon allein Raiffeisen. Österreich ist nicht allein mit seiner Abhängigkeit. In anderen EU-Ländern hat sich der Import von russischem Brennstoff für die Kernkraftwerke 2023 verdoppelt Die Schlussfolgerung für die Zukunft muss sein: Man darf nicht von einem einzigen Lieferanten abhängig sein – egal ob Russland, China oder die USA.

Was ist die Alternative? Gas zu Preisen wie 2013, also vor der Krim-Invasion, wird es nicht mehr geben. Man muss immer mehr investieren – nicht nur in erneuerbare Energieträger, sondern in Effizienz, ins Stromnetz. Die Vorstellung „einfach zurück zu früher“ ist ein Irrtum. Flüssiggas und Kernenergie werden in der Übergangszeit zur Energiewende nach wie vor gefragt sein, je nachdem wie der Energiemix – abhängig von geografischen oder politischen Gegebenheiten – aussehen wird. In einem Land wie Österreich sehe ich nicht, dass Kernenergie eingeführt wird.

Wäre es klug? Der globale Trend ist eindeutig und zeigt auf eine Verdreifachung der Kernenergie weltweit. Auch China und Indien wollen dekarbonisieren, aber mit einem anderen Zeitplan bis 2060 oder 2070 – und mit mehr und mehr Kernenergie und Flüssiggas. Der Energiemix wird vielfältiger sein, als wir uns das vorstellen. Es wird kein glatter, flotter Übergang von fossilen Energieträgern auf erneuerbare sein, sondern ein schrittweiser, auch abhängig von technologischen Durchbrüchen.

Wird die EU 2027 weg sein von russischem Gas, wie man sich das vorgenommen hat? Das ist unrealistisch. Vor allem glaube ich, dass es Russland trotzdem schafft, Gas nach Europa zu bringen, auch wenn es nicht mehr russisches Gas heißt, weil es gebraucht wird. In einzelnen Ländern schließe ich auch weitere Importe russischer Fossilträger nicht aus. Wird es Österreich schaffen? Das sehe ich in drei Jahren nicht, es sei denn, es kommt eine Regierung, die glaubt, dass es auch andere Wege gibt. Denn es ist nicht so, dass man nicht auf russisches Gas verzichten kann. Aber ohne Kernenergie oder eigene LNG-Terminals und Interkonnektoren und mit dem aktuellen Anteil von Erneuerbaren, der sich bis 2027 nicht gravierend erhöhen wird, sehe ich schwarz. Velina Tchakarova leitete bis Anfang 2023 das Institut für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES). Die gebürtige Bulgarin und studierte Politikwissenschafterin hat an Österreichs neuer Sicherheitsstrategie mitgearbeitet. Sie hat das geopolitische Beratungsunternehmen FACE gegründet.

von Monika Graf

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