Um aus der einseitigen Abhängigkeit von russischem Gas herauszukommen, hat sich Europa in übermäßige Abhängigkeit von neuen Lieferanten begeben. Von den USA. Aber noch mehr von einem norwegischen Konzern.
Als sich die wichtigsten Gashändler der Welt Ende April am Stadtrand von Amsterdam trafen, herrschte dort die übliche Geschäftsatmosphäre: Kaffee, Croissants und das Feilschen um Geschäfte für den Winter. Dann kam plötzlich die Nachricht von einem Leck in Europas größter Flüssigerdgasanlage, die sich nördlich des Polarkreises befindet.
Das Problem, das bei einem geplanten Test der Sicherheitssysteme der Anlage entdeckt wurde, konnte zwar schnell behoben werden. Aber es sorgte doch für einen kurzzeitigen Anstieg des Gaspreises. Und die Gashändler bei Amsterdam wurden unangenehm an die Macht erinnert, die ein einziges Unternehmen erlangt hatte: Equinor.
In den über zwei Jahren, seit Russland in die Ukraine einmarschiert ist und die Energiepreise hochgetrieben hat, hat der norwegische Öl- und Gasriese still und leise die Krone übernommen, die einst dem russischen Konzern Gazprom gehörte. Norwegen liefert jetzt 30 Prozent des Gases in der EU – vor dem Krieg kam Gazprom auf etwa 35 Prozent. Und von den mehr als 109 Milliarden Kubikmetern Gas, die Norwegen 2023 nach Europa exportierte – genug, um Deutschland bis 2026 mit Strom zu versorgen – kamen etwa zwei Drittel von Equinor.
Daran wird sich so schnell nichts ändern. Solang die EU in hohem Maße von fossilen Brennstoffen abhängig ist, werden norwegische Kohlenwasserstoffe eine wesentliche Rolle in der Versorgung spielen.
Equinors Sichtbarkeit „hat sich mit dem Rückgang der Ströme aus Russland dramatisch verändert“, sagt Irene Rummelhoff, eine Managerin des Konzerns.
Dessen neue Bedeutung hat auch die Frage aufgeworfen, ob Europas Staats- und Regierungschefs ihre Länder in Gefahr bringen, indem sie sich zu sehr auf einen einzigen Lieferanten verlassen. Obwohl Norwegen als verlässlicher Partner gilt, hatten längere Ausfälle und Wartungsprobleme, die die Energiepreise beeinflussten, Nachwirkungen auf dem Kontinent.
Zum Teil profitiere Equinor von einem Wandel in Europas Beziehung zu fossilen Brennstoffen, sagt Thina Margrethe Saltvedt, Chefanalystin für nachhaltige Finanzen bei der Nordea Bank. Vor fünf Jahren „wurde viel über den grünen Wandel gesprochen und darüber, dass die Öl- und Gasindustrie langsam ausstirbt“. Infolge von Covid und Krieg sehe man jetzt nichts mehr davon. „Der Schwerpunkt hat sich auf die Energiesicherheit verlagert.“
Teurer als russisches Gas. Das hat Norwegen in den Mittelpunkt der Diskussion über die Sicherung der europäischen Energieressourcen gerückt. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck stattete Oslo im Jänner 2023 einen Besuch ab. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste zwei Monate später zum norwegischen Troll-Gasfeld, das zehn Prozent der Versorgung des Kontinents sicherstellt.
Da die norwegischen Gaspreise höher sind als die russischen, gab es nach dem Rückgang der russischen Exporte einigen Unmut darüber, dass Norwegen auf Kosten Europas profitiert. Die Kritik ebbte jedoch ab, als Regierungen und Händler die neuen Marktbedingungen akzeptierten. Ende April dankte der deutsche Bundeskanzler, Olaf Scholz, Norwegen dafür, dass es seinem Land ermöglicht hat, „innerhalb weniger Monate“ von russischem Gas unabhängig zu werden.
Norwegens Profit ist gehörig – der Wert der Gasexporte erreichte 2022 ein Rekordhoch von umgerechnet 123 Milliarden Euro. Aber die neue Rolle hat auch ein Fragezeichen hinter Norwegens grüne Zukunft gesetzt. Während das Land bei Initiativen wie der Umstellung auf E-Fahrzeuge Vorreiter ist, hat der jüngste Nachfrageschub nach Gas dazu geführt, dass finanzielle Mittel und qualifiziertes Personal wieder in den Öl- und Gassektor umgeleitet wurden. Organisationen wie Greenpeace haben sich besorgt darüber geäußert.
Der „Equinor-Wartungseffekt“. Auch für Händler bringt der Totalschwenk hin zu Equinor neue Probleme. Die steigende Bedeutung von Equinor in Europa wurde vorigen Sommer deutlich, als der Konzern ankündigte, dass die Wartungsarbeiten an einigen seiner größten Anlagen verlängert würden. Binnen Minuten stiegen die Gaspreise um fast 20 Prozent.
Die Reaktion war besonders heftig, da die Händler wegen der schleppenden Nachfrage meist auf einen Preisverfall gewettet hatten. Aber die ungeplanten Ausfälle führten dazu, dass die norwegischen Exporte einige Wochen lang stark zurückgingen, und veranlassten die Händler auf dem ganzen Kontinent, den „Equinor-Wartungseffekt“ in ihren Modellen stärker zu berücksichtigen. Da der Gaspreis noch stärker vom Status des Unternehmens abhing, begannen die Händler, den täglichen Meldungen eines anderen norwegischen Unternehmens, Gassco, über Änderungen der Wartungspläne im ganzen Land mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Lage in Europa ist weitaus besser als noch vor einem Jahr, aber die Umstände bleiben unbeständig. Jede Bedrohung der Brennstoffversorgung kann die Märkte in Aufruhr versetzen, was wiederum nachgelagerte Auswirkungen haben kann. „Es wird erwartet, dass Norwegen in diesem Sommer einen größeren Teil des europäischen Gasbedarfs decken wird, da sich seine Anlagen von den umfangreichen Wartungsarbeiten des letzten Jahres erholen“, schrieb Nnenna Amobi von Bloomberg NEF in einer Notiz vom 1. Mai. „Ungeplante Ausfälle könnten jedoch die Gasflüsse drosseln und die Preise in die Höhe treiben.“
Gleichzeitig könnten die Gaslieferungen aus Norwegen heuer einen neuen Rekord erreichen. Equinor hat sich bemüht, seine Kapazitäten zu erhöhen und Engpässe durch eine Straffung der Wartungsarbeiten zu verringern. Das Mantra der Regierung lautet, dass Norwegen über Jahrzehnte hinweg ein „stabiler und langfristiger Energielieferant“ sein wird.
Es bleibt abzuwarten, ob sich das bewahrheitet. Mit einer neuen Welle von verflüssigtem Erdgas (LNG) aus den USA und Katar, die in den nächsten Jahren kommt, „wird die Bedeutung von Equinor und Norwegens Gas für Europa schließlich abnehmen“, sagt Christopher Kuplent, Leiter der europäischen Energieforschung bei der Bank of America, und merkt an, dass Norwegen „es schwer haben wird, seine Gasproduktion organisch zu steigern und daher wesentlich mehr zu exportieren“. Die neuen Projekte, so fügte er hinzu, „machen es, zumindest auf dem Papier, für die europäischen Gasverbraucher ein wenig bequemer, die Preise herunterzuhandeln“.
Die Presse