Masterplan gegen die Krise. Eine neuer EU-Bericht bringt einen Reformplan für Europas Wirtschaft. Der braucht viel Geld und wirft einige Prinzipien über den Haufen Mario Draghi Ex-Chef der EZB
Zumindest die Warnrufe waren unmissverständlich. Es gehe hier um eine „existenzielle Herausforderung“ für Europa, erklärte Mario Draghi in der EU-Zentrale in Brüssel, die internationale Presse vor und Kommissionschefin Ursula von der Leyen neben sich: „Entweder wir tun das jetzt, oder wir sterben einen langsamen Tod.“
Was zu tun ist, das hat der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank in einem rund 400-seitigen Bericht zusammengetragen, der die tiefe Krise der europäischen Wirtschaft analysiert und mögliche Lösungsansätze präsentiert.
Diese Krise bringt Draghi schmerzhaft auf den Punkt. Die Produktivität europäischer Arbeitskräfte liegt weit hinter jenen, die in den USA, oder in China zu Werke gehen. Das aber liegt nicht an hohen Löhnen oder langen Urlauben, sondern daran, dass in den Sektoren, in denen heute und auch in naher Zukunft das große Geld verdient wird, Europa nur eine Nebenrolle spielt. Allen voran die digitale Wirtschaft, von der Chips-Produktion bis zu den Software- und Internet-Giganten.
800 Milliarden pro Jahr
In vielen Sektoren der Wirtschaft gebe es Chancen für Europa, vorne mitzuspielen, aber dafür brauche es grundlegende Reformen – und sehr viel Geld: Investitionen in einem Umfang, wie ihn Europa seit den Wiederaufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen hat. Rund 800 Milliarden Euro pro Jahr seien notwendig. Das Geld aber könnten nicht nur Unternehmen und Investoren aufbringen. Es brauche dafür Geld der EU.
Draghi weiß, wie heikel dieses Thema ist und wie sehr es die EU spaltet. Während etwa Frankreich auf neue Schulden, also gemeinsame EU-Anleihen, drängt, wollen Staaten wie Deutschland und Österreich nichts davon wissen. Ähnlich umstritten ist die Finanzierung durch eigene Einnahmen der EU, etwa aus der Treibhausgas-Besteuerung oder Importzöllen. Doch diese gemeinsamen Gelder sind notwendig, macht Draghi deutlich: für Infrastruktur, wie etwa das Energienetz, eine gemeinsame Verteidigung und um Forschung und Innovationen voranzutreiben.
Draghi stellt nicht nur bei diesem Thema EU-Prinzipien infrage. Ähnlich radikal seine Forderung, die Fusion von Unternehmen zu erleichtern. Im Telekom-Sektor etwa oder in der Rüstungsindustrie sollen global konkurrenzfähige europäische Konzernriesen entstehen. Und die sollen auch bei gemeinsamen Großaufträgen aller EU-Staaten bevorzugt bedient werden. Eine Antwort auf das „America First“, mit dem die US-Regierung heimische Unternehmen fördert.
Vorrang für Stromnetze
Um diese Aufholjagd zu starten, braucht Europa rasch billigere Energie. Die koste in den USA ein Drittel der europäischen Preise. Diese Energielücke müsse geschlossen werden, mit „allen verfügbaren Mitteln“: rascher Ausbau der Energienetze unter erleichterten Bedingungen, ein Ende der Preisregelungen, die sich immer nach dem teuersten Anbieter richten würden.
Maßnahmen, die allesamt nicht nur Entscheidungen in der EU-Zentrale, sondern auch in den EU-Hauptstädten verlangen. Und die, so urteilen viele politische Spieler in Brüssel, seien da schwer auf einen Nenner zu bringen: egal, ob bei gemeinsamen Schulden, Stromtrassen oder Preisregelungen für Energie.
So groß EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen den Draghi-Bericht angekündigt hat, so klein sind ihre Chancen, viele der heiklen Forderungen auch durchzubringen. Der Bericht, urteilt das Nachrichtenportal Politico etwa, könnte – wie viele andere derartige Berichte – auch als „Türstopper“ in den EU-Büros enden.
„Eine gemeinsame europäische Finanzierung für diese Investitionen wird notwendig sein“
Mario Draghi Ex-Chef der EZB
Fakten
Innovation
Europa braucht Investitionen in Zukunftsbranchen, von Pharmaindustrie bis zu Künstlicher Intelligenz
Billige Energie
Europas Industrie braucht billigere Energie, der Ausbau von Kraftwerken und Stromnetzen soll erleichtert werden
800Milliarden
Euro pro Jahr sollen in die Wirtschaft fließen, von Unternehmen und Investoren, aber auch von der EU – durch gemeinsame Schulden oder neue Einnahmen, etwa durch die Kosten für Treibhausgase
Kurier