Energie. Die Temperaturen fallen, Asien kauft Europa das Flüssiggas weg und erste Warnungen vor einer neuen Gaskrise im Winter kursieren. Was ist da dran?
Der rekordheiße Sommer in Europa endete abrupt. Wenige Wochen nach der letzten Tropennacht in Wien sind viele Menschen im Land nahtlos in die Heizsaison übergegangen. Auch im Rest Europas deutet nach zwei überdurchschnittlich warmen Wintern vieles darauf hin, dass die kalte Jahreszeit heuer auch wieder wirklich kalt werden dürfte.
Der frühe Start der Heizsaison am Kontinent dürfte die Gasnachfrage jedenfalls spürbar nach oben schicken, erwartet etwa die Beratungsfirma Rystad Energy. Gleichzeitig warnen Marktbeobachter, dass in den kommenden Monaten deutlich weniger Erdgas – sei es via Pipeline oder verflüssigt per Schiff – nach Europa kommen könnten, als bisher erwartet wurde. Stolpern die Europäer also neuerlich in eine Gaskrise, wie es der britische „Economist“ in den Raum stellt?
Auf den ersten Blick scheint eine Neuauflage der Gaskrise von 2022 außer Reichweite. Anders als damals sind die europäischen Erdgasspeicher mit einem Füllstand von 94 Prozent nahezu randvoll. Zudem haben die meisten EU-Staaten die vergangenen beiden Winter genutzt, um sich vom alten Hauptlieferanten Russland loszusagen. Lieferte Moskau 2021 mit 40 Prozent noch den Löwenanteil des Gases in die EU, so haben diese Rolle nun die großen Flüssiggasproduzenten USA und Katar übernommen. Eine physische Knappheit des Brennstoffs ist damit für die heurige Saison nahezu ausgeschlossen. Europa wird gut über den Winter kommen. Die Frage ist, zu welchem Preis.
Lieber Asien als Europa
Denn heuer könnte der erste Winter vor der Tür stehen, in dem die Tragfähigkeit des neuen Lieferantennetzes wirklich auf die Probe gestellt wird, argumentieren Pessimisten. Und das hat nicht nur mit dem Wetter, sondern vor allem auch mit der wirtschaftlichen Erholung in Asien zu tun. Anders als bei klassischen Erdgaslieferungen via Pipeline, sind Flüssiggashändler bis zur letzten Sekunde flexibel, wohin sie die Tanker mit dem tiefgekühlten LNG dann letztlich schicken. Europa hat 2022 davon profitiert, als es ärmeren Schwellenländern in Asien ihre bestellten LNG-Mengen zu einem höheren Preis vor der Nase weggekauft hat, um der befürchteten Gasknappheit zu entgehen.
Nun dreht sich der Spieß um. Die Preise, die reichere asiatische Volkswirtschaften wie China oder Südkorea gerade für Flüssiggas-Lieferungen zu zahlen bereit sind, sind so hoch, dass die ersten LNG-Tanker bereits vor deutschen Häfen kehrtmachen, Pönale bezahlen und nach Asien weiterfahren. Und daran dürfte sich so rasch nichts ändern. Die Analysten von BNEF schätzen, dass die US-LNG-Exporte für die kommenden Monate nach Asien profitabler sind als nach Europa.
Wirklich schlagend könnte dieses Risiko dann werden, wenn sowohl Europa als auch Asien gleichzeitig einen kalten Winter durchleben müssen. Dann würden die Europäer, die ihren Gasbedarf an sich deutlich gesenkt haben, plötzlich wieder mehr Erdgas benötigen, um Heizungen und Kraftwerke am Laufen zu halten. Erschwerend kommt hinzu, dass das Angebot an LNG nicht ganz so schnell wachsen wird wie ursprünglich angekündigt. BNEF rechnet zwar damit, dass die globale Flüssiggasmenge heuer um vier Prozent und im kommenden Jahr um neun Prozent steigen könnte. Geplant war allerdings deutlich mehr.
Doch etliche Großprojekte verzögern sich. Das russische Arctic LNG 2 ist im vergangenen Jahr zur Zielscheibe härterer westlicher Sanktionen geworden. Selbst wenn das Projekt termingerecht fertiggestellt werden könnte, ist heute nicht klar, ob die Mengen den Westen dann überhaupt noch erreichen dürften. Die US-Regierung unter Joe Biden hat ein Moratorium auf den Bau neuer LNG-Exportterminals ausgesprochen und andere Staaten wie Ägypten produzieren derzeit gar nicht so viel Erdgas, um ihre Export-Versprechen an Europa halten zu können.
Noch mehr Drama droht, wenn die Ukraine mit Jahreswechsel tatsächlich kein russisches Gas mehr durch ihre Leitungen nach Europa lässt. Über diesen Weg kamen zuletzt immerhin noch fünf Prozent der Gasimporte nach Europa. Hinter den Kulissen wird verhandelt, ob es Kiew akzeptiert, wenn das russische Gas auf dem Papier zu aserbaidschanischem Gas umgelabelt wird, bevor es in die Europäische Union geschickt wird.
Wie sehr der Markt auf diesen Deal wartet, sah man am 19. September. Nach einer Reuters-Meldung, wonach die Ukrainer dieser Lösung zugestimmt habe, fielen die Preise für künftige Gaslieferungen nach Europa (TTF-Futures) prompt um 6,9 Prozent. Am Morgen danach kam das Dementi aus Kiew, und Gas war wieder 5,8 Prozent teurer.
Asien bestimmt den Preis
Das zeige auch, dass der Markt viele Gefahren, die sich noch nicht materialisiert haben, bereits eingepreist habe, sagt Patricio Alvarez, Analyst bei Bloomberg Intelligence. Dass der Kontinent heute aber um ein Fünftel weniger Gas brauche als 2021 und auch deutlich mehr Erneuerbare und Atomkraftwerke zur Verfügung stünden als bei Kriegsausbruch in der Ukraine, werde in seinen Augen zu wenig beachtet. Er rechnet damit, dass Europa mit zu 40 Prozent gefüllten Speichern ins Frühjahr kommen wird.
Die Europäer werden diesen Winter genug Gas haben. Auch wenn sie dafür etwas mehr zahlen müssen als zuletzt.
von Matthias Auer
Die Presse