Atomkraft. Die Energiewende ist ohne Kernkraft nicht zu schaffen. Das weiß man nicht nur in der EU: Für den Energiehunger der künstlichen Intelligenz wird jetzt sogar ein US-Katastrophen-AKW reaktiviert.
Anleger, die den Aktienmarkt genau beobachten, rieben sich vor ein paar Wochen verwundert die Augen: Die Aktie des großen US-Versorgers Constellation Energy, sonst, wie bei Energieversorgern üblich, eher unspektakulär unterwegs, kannte plötzlich kein Halten mehr: 65 Prozent plus in knapp drei Wochen sind für einen im S&P-500-Index enthaltenen Wert jedenfalls keine gewöhnliche Entwicklung. Das erwartet man eher bei stylishen Start-ups.
Des Rätsels Lösung: Constellation Energy hat einen Stromliefervertrag mit dem Softwareriesen Microsoft abgeschlossen. Nicht irgendeinen: Microsoft wird 20 Jahre lang die Produktion eines ganzen Kraftwerks abnehmen. Und zwar die des Blocks1 des berüchtigten Atommeilers Three Mile Island, dessen Block2 im Jahr 1979 dem bisher größten Atomunfall auf amerikanischem Boden zum Opfer gefallen war. Three Mile Island gilt seither, zumindest in Europa, als Symbol für die Gefährlichkeit und Unbeherrschbarkeit der Kernkraft. Block eins war weitergelaufen und 2019 wegen Unwirtschaftlichkeit abgeschaltet worden, soll nun aber reaktiviert werden und bis 2028 ans Netz gehen.
Wieso macht man so etwas? Nun, Microsoft hat eine schlüssige Erklärung dafür. Der Konzern konzentriert sich stark auf künstliche Intelligenz (AI) – und die ist ein ausgeprägter Stromfresser. Nach US-Untersuchungen benötigt eine Anfrage an ChatGPT (Microsoft ist Großinvestor und investiert Milliarden in den ChatGPT-Entwickler OpenAI) bis zu zehnmal so viel Strom wie eine Google-Anfrage. Die betroffenen Microsoft-Rechenzentren, die das abwickeln, laufen rund um die Uhr. Und müssen demgemäß 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr verlässlich mit großen Mengen Energie versorgt werden.
Mit erneuerbaren Energieformen, speziell Sonne und Wind, ist das nicht zu schaffen. Und fossile Energieerzeugung ist für den Softwarekonzern keine Alternative: Microsoft hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 klimaneutral zu sein. Ohne Kernkraft geht das nicht. Three Mile Island hat eine Leistung von knapp 900 Megawatt. Das lässt sich mit Batterien auch dann nicht darstellen, wenn dafür ausreichend Wind- und PV-Kapazität zur Verfügung stünden.
An der Börse gilt der Microsoft-Deal deshalb als Startschuss für die absehbare Renaissance der Kernkraft: Alles, was mit AKW und Uran zu tun hat, zieht gerade deutlich an. Politisch ist sowieso alles klar: Die vergangenen Jahrzehnte waren von AKW-Schließungen geprägt, doch jetzt dreht sich der Wind rasant. Seit klar ist, dass die Klimaziele, die sich die Staatengemeinschaft auferlegt hat, ohne Kernkraft in der Realität nicht zu erreichen sind, wälzen eine ganze Reihe von Ländern Pläne zum Ausbau. Allen voran China, das sagenhafte 41 Reaktoren plant. Das ist übrigens kein Widerspruch zum gewaltigen Ausbau von Wind- und Sonnenstrom im Reich der Mitte: Die Chinesen gehen pragmatisch vor und wollen Klimaneutralität erreichen, ohne die eigene Wirtschaft abzuwürgen. Im Gegensatz zu Deutschland etwa, wo funktionierende Kernkraftwerke aus ideologischen Gründen abgeschaltet wurden.
Aber auch in Europa steht die Kernkraft vor einem Comeback: Ungarn, Polen, Rumänien planen Kernkraftwerke, Frankreich sowieso. Belgien verlängert die Laufzeiten seiner eigentlich vor der Schließung stehenden Meiler, das mit erneuerbarem Strom bestens versorgte Norwegen philosophiert über die Errichtung von kleinen, dezentralen Kraftwerken (die allerdings noch nicht im Stadium der Marktreife sind), Italien will sein (nach Volksabstimmungen im Gefolge des Fukushima-Unfalls beschlossenes) Kernkraftverbot wieder kippen und Schweden hat soeben Subventionen für die Errichtung von vier bis fünf Reaktoren beschlossen.
Dagegen läuft Deutschland Sturm: Die Deutschen wollen Kernkraft jedenfalls von allen EU-Finanzierungen ausgeschlossen wissen. Und begeben sich damit zusehends in eine Außenseiterposition. Denn die EU selbst weiß, dass ihr hochgepushter Green Industrial Deal ohne Kernkraft nicht funktioniert. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat erst kürzlich bei einer Veranstaltung in Prag zum Ausbau der Kernkraft aufgerufen: Man benötige mehr Erneuerbare, mehr Kernkraft und mehr Energieeffizienz, hat die Kommissionschefin gesagt.
Genau das ist es: Sonne und Wind sind zwar wichtige und unverzichtbare Pfeiler der Energiewende, aber sie liefern Strom eben sehr oft nicht dann, wenn er gebraucht wird. Die Energieversorgung eines Industrielandes kann auf dieser Basis nicht funktionieren. Nicht nur Rechenzentren wie die von Microsoft, auch Stahlwerke, Papierfabriken etc. lassen sich nicht nach Belieben ab- und wieder anschalten. Die angebotsorientierte Stromversorgung, von der die Grünen träumen, ist mit Einschränkungen für private Haushalte möglich, aber nicht für die Industrie. Und vor allem die Winterstromlücke ist auch mit Batterien nicht füllbar. Und zwar noch sehr lange nicht.
Man braucht also eine stabile, immer verfügbare Energiequelle, um die schwankende Wind- und Sonnenstromversorgung auszugleichen. Dafür ist Kernkraft zwar nicht optimal: Die Anlagen sind teuer, die Bauzeit sehr lang, die Endlagerfrage ist noch nicht zufriedenstellend gelöst und der Uranbedarf wirft neue Energieabhängigkeiten auf. Und sie sind schlechter regelbar als die noch zu bauenden fossilen Gaskraftwerke, mit denen die Deutschen ihre Energiewende bewältigen wollen. Aber sie erzeugen Strom CO₂-frei. Es wird also, wenn man die Dekarbonisierung der Stromerzeugung schaffen will, wohl kein Weg an der Kernkraft vorbeiführen. Zumal der Strombedarf ja gigantisch steigt: Die Klimawende basiert auf einer großflächigen Elektrifizierung von Industrie, Verkehr und Raumheizung. Das wird den Strombedarf in den nächsten 15 Jahren zumindest verdoppeln. Mit Erneuerbaren allein ist das nicht darstellbar.
Der absehbar explosionsartig steigende Strombedarf zeigt aber auch, dass die Zeit drängt: Man hat nicht mehr viel Zeit, Für und Wider zu diskutieren, wenn man der Energiewende nicht beim raschen Scheitern zusehen will.
In Österreich, wo die Verfassung den Betrieb von Kernkraftwerken verbietet, ist das natürlich nicht sehr populär. Hier herrscht die große Lebenslüge, die wir schon von der Neutralität her kennen: So, wie das Land selbstverständlich auf den militärischen Schutz durch seine Nachbarstaaten baut, so vertraut es auch auf die Energieversorgung durch die Nachbarn, wenn das notwendig ist. Wir brauchen kein Kernkraftwerk, wir haben ja genügend in der Umgebung: Krško, Dukovany, Temelín, Paks und so weiter sorgen dafür, dass im Winter, wenn sich jetzt schon bis zu zehn Prozent Atomstrom undeklariert in unseren Netzen tummelt, das Licht nicht ausgeht.
So kann man es natürlich auch machen. Zukunftsträchtig ist das nicht.
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Die Presse