Emissionen von stärkstem Treibhausgas „SF6“ unterschätzt

15. November 2024, Wien
Emissionen reduzieren - ein Kampf gegen Windmühlen
 - Schwarze Pumpe, APA/dpa-Zentralbild

In Europa und den USA wurde seit 2005 fast doppelt so viel vom „klimaschädlichsten Treibhausgas, das wir kennen“ freigesetzt, als offiziell gemeldet wurde, berichten Wiener Meteorologen. Es heißt Schwefelhexafluorid (SF6), wird in der Elektroindustrie verwendet und war in so manchen Laufschuhen und Autoreifen. Die Emissionen sanken jüngst in Europa und Nordamerika. In China und wohl auch Indien steigen sie aber stark, heißt es im „Journal Atmospheric Chemistry and Physics“.

„Das Treibhausgaspotenzial von SF6 ist 24.300-mal höher als von CO2, und es verbleibt tausend Jahre in der Atmosphäre“, so Martin Vojta vom Institut für Meteorologie und Geophysik der Universität Wien in einer Aussendung: „Das Gas sammelt sich dort also und wird das Klima für Hunderte von Jahren erwärmen.“ Die jährlichen globalen SF6-Emissionen zeigen auch heute schon eine Wirkung. „Sie entspricht ungefähr vier Mal jenen der jährlichen österreichischen CO2-Emissionen“, erklärte er der APA.

„Im Grunde befindet sich SF6 in der gesamten Atmosphäre“, berichtete Vojta. Die größten Konzentrationen gebe es in der untersten Schicht, der Troposphäre, die in Mitteleuropa rund elf Kilometer hoch ist. Aufgrund seiner langen Lebensdauer sei aber auch viel von dem Treibhausgas in der Stratosphäre (bis 50 km) zu finden.

Laut „Kyoto-Protokoll“ der Vereinten Nationen über Klimaänderungen müssen Länder ihren Treibhausgas-Ausstoß melden, darunter auch die SF6-Emissionen, so die Forscher. Dabei handelt es sich aber vor allem um Schätzungen, die statistisch hochgerechnet werden und somit „sehr unsicher sind“, erklären sie. Außerdem wäre kaum absehbar, wann das Gas etwa aus Elektrobauteilen, wo es als Isolator fungiert, entweicht. Bis etwa zur Jahrtausendwende wurde es auch in Sohlen von Laufschuhen verwendet, zum Befüllen von Autoreifen und als Isoliergas bei Fenstern mit Mehrfachverglasung. Dies ist aber heutzutage aus Umweltschutzgründen verboten.

Die Forscher ermittelten die Freisetzung von SF6 zwischen den Jahren 2005 und 2021 mittels weltweiter Messungen und Modellberechnungen. „Wir verwendeten Beobachtungen von Bodenmessstationen auf Seehöhe bis in die Berge, Schiffsmessungen, Flugzeugmessungen und sogar vereinzelt Ballonmessungen bis ungefähr 30 Kilometer Höhe“, berichtete Vojta: „In Österreich gibt es aber keine Beobachtungsstelle, die SF6 misst.“ Hierzulande sei man „in Sachen Beobachtungsstellen generell weit zurück“, so der Meteorologe. Selbst für die gängigsten Treibhausgase CO2 und CH4 (Methan) gebe es nur eine Messstation am Hohen Sonnblick (Salzburg), deren Daten öffentlich zugänglich sind.

Anhand der Luftströmungen zur Zeit der Messungen verfolgten die Forscher zurück, woher das Schwefelhexafluorid jeweils hergekommen ist. Sie berechneten, wie viel an welchem Ort freigesetzt wurde. Die Ergebnisse zeigten „eine massive Lücke zwischen Theorie und Realität“, schrieben sie. „In keinem der Länder stimmen die von 2005 bis 2021 gemeldeten Emissionen mit den Messungen des Treibhausgases SF6 überein.“ Man habe sie systematisch unterschätzt – und zwar massiv, so Andreas Stohl (Uni Wien). In den USA waren die tatsächlichen Emissionen durchschnittlich doppelt so hoch wie die offiziell gemeldeten. In der EU hat man 40 Prozent mehr SF6 freigesetzt, als offiziell erklärt wurde. „Im Durchschnitt emittierten die USA und EU zusammen über diesen Zeitraum hinweg rund 80 Prozent mehr SF6 als angegeben“, so die Forscher.

Es gebe aber auch Positives zu berichten: Die (tatsächlich gemessenen) Emissionen sind in Europa und Nordamerika deutlich gesunken. In der EU betrugen sie 2005 noch 410 Tonnen, 2021 „nur“ mehr 250 Tonnen. In den USA gingen sie von 1.250 auf 480 Tonnen zurück. Mit den Emissionen schrumpften auch die Diskrepanzen zwischen den offiziellen Angaben und den Messergebnissen, berichten die Meteorologen.

Den deutlichen Rückgang der Emissionen in Europa und den USA haben offensichtlich gesetzliche Vorgaben bewirkt, erklärten sie: In der EU trat 2014 die „F-Gas-Verordnung“ in Kraft. Sie regelt Emissionen von Fluorkohlenwasserstoffen sowie SF6. Auch in den USA wurde der SF6-Ausstoß durch mehrere Verordnungen beschränkt. „Damit zeigt sich, dass Vorschriften im Umweltbereich tatsächlich wirken“, so Stohl.

In China vervierfachten sich hingegen die Emissionen von 1.280 Tonnen im Jahr 2005 auf 5.160 Tonnen im Jahr 2021. „Alleine schon dieser Anstieg machte den Rückgang in den USA und der EU mehr als wett“, berichtete Stohl. Eine ähnliche Entwicklung sei auch in Indien anzunehmen. In diesem Land und seiner Umgebung gebe es aber keine Messstellen, mit denen man die Emissionen verlässlich ermitteln könnte. Um die Klimakrise nicht weiter anzuheizen, müsste man demnach auch in China und Indien die Verwendung von SF6 rasch beschränken und die Emissionen global besser überwachen, meinen die Forscher.

Service: https://dx.doi.org/10.5194/acp-24-12465-2024

APA