Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat im Juli die Folgen des Klimawandels als mögliche Bedrohung für grundlegende Menschenrechte eingestuft. Das Gutachten gilt als Meilenstein des Völkerrechts und eröffnet weltweit neue Wege für Klimagerechtigkeit. Laut Lucía Muriel, die sich am Freitag für eine Paneldiskussion rund um Klimagerechtigkeit und Whitewashing in der Klimabewegung in Wien befand, ignorieren europäische Klimabewegungen Gerechtigkeitsfragen aber nach wie vor.
Bereits zu Beginn der westlichen Klimabewegungen ging es laut der Sozialwissenschafterin nie um Klimagerechtigkeit, sondern um Klimaschutz. „Der globale Süden hat dies aber bereits Ende der 1990er-Jahre eingefordert und gesagt, wir müssen über Klimagerechtigkeit sprechen, denn wir sind nicht alle von der Erderwärmung gleich betroffen“, sagte Muriel im APA-Interview. Akteure aus dem Globalen Süden hätten diese Differenzen nach und nach lauter kommuniziert und trotzdem hätten die europäischen Klimabewegungen diese Themen ignoriert.
Thema wird oft verleugnet
„Bis heute wird diese Thematik von der aktuellen klimaaktivistischen Bewegung in Deutschland aber verleugnet. Man äußert sich zum Beispiel nicht zu sozialer Ungerechtigkeit und machtkritischen Punkten. Man stellt sich aber trotzdem da als die Helden der Geschichte dar, weil sie sich aufgrund ihrer europäischen Machtposition sozusagen als die Klimaschützer erklären.“ Darunter verstehe die Gründerin des Projektes „Klima dekolonial und solidarisch“ (KlimaDeSol), das wichtige Impulse zu einer demokratischen, dekolonialen und solidarischen Bewegung zu Klimagerechtigkeit geben soll, Whitewashing. Man tue so, als gäbe es kein Machtgefälle, unterschiedliche Perspektiven und unterschiedliche Betroffenheiten.
Der europäische Klimaaktivismus wurzle laut Muriel, die sich mit Kolonialgeschichte und Machtstrukturen in der heutigen Klimakrise und -bewegung beschäftigt, unter anderem darin, dass man im Westen jenen Wohlstand beibehalten möchte, an den man gewöhnt sei. „Die Erderwärmung führt zu unterschiedlichsten Folgen. Darunter fällt auch der Zugang zu schönen Gegenden im Globalen Süden, also Urlaubszielen. Das wird als eine Problemsituation wahrgenommen“, so die Expertin, die an der vom VIDC (Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation) veranstalteten Paneldiskussion am Freitag teilnahm.
CO2-Zertifikatehandel sei „hochkritisch“
In diesem Jahr gab die EU-Kommission bekannt, dass die Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union bis zum Jahr 2040 um 90 Prozent im Vergleich zu 1990 reduziert werden sollen. In diesem Zusammenhang soll ein internationaler Emissionszertifikatehandel integriert werden. Für das eingelagerte Kohlendioxid könnten Unternehmen den Vorschlägen zufolge künftig CO2-Zertifikate erhalten, die sie im EU-Emissionshandel anrechnen können. Kritiker befürchten eine Auslagerung des Problems an Länder etwa des Globalen Südens.
Dem stimmt auch Muriel zu: „Ich finde die Idee mit diesen Zertifikaten hochkritisch, weil sie nicht im Dialog mit Produzenten im globalen Süden entstanden sind, sondern über deren Köpfe hinweg erfolgt sind. Man hat nur an die eigenen Vorteile, an die eigenen Bedingungen und Problemlösungen gedacht.“ Dieses Vorhaben werde vor allem dazu beitragen, dass der Globale Süden noch stärker von Verarmung betroffen sein wird.
Für eine Lösung bräuchte es laut Muriel eine Verschiebung der Machtkonstellation auf internationaler und globaler Ebene. „Im Moment werden die Bedingungen vom globalen Norden diktiert, zugunsten der eigenen Märkte, aber auch Lebensbedingungen. Fragen der Gerechtigkeit fallen vollkommen unter den Tisch. Das heißt, wir bräuchten tatsächlich einen großen Perspektivwechsel.“
APA