Europäischer Rat. Kostenwahrheit für das Heizen und Tanken? Diese Idee war noch vor wenigen Jahren politischer Mainstream. Heute setzen die EU-Chefs alles daran, die Ausweitung des Emissionshandels zu kappen.
Im Juli 2021 erklärte ein hoher EU-Funktionär im Kreise einiger Brüsseler Korrespondenten die ehrgeizigen klimapolitischen Vorhaben der Union. Sein Mantra: Kostenwahrheit, wenn es um die Folgen von Treibhausgasemissionen geht – auch wenn es ums Wohnen geht. Den Einwand des Verfassers dieser Zeilen, dass sich die Kosten für die Sanierung seines Hausdachs über 40 Jahre nicht rentieren würden, wischte der Eurokrat lässig beiseite: „Das beweist nur, dass Sie zu wenig für Strom bezahlen.“
Vier Jahre und eine Inflationskrise später hört man im Brüsseler EU-Viertel solche Ansagen nicht mehr. Der enorme Anstieg der Energiepreise nach der Pandemie und zu Beginn der russischen Invasion in die Ukraine hat sich zwar eingebremst. Europäische Unternehmen zahlen derzeit aber noch immer doppelt so viel für elektrischen Strom, wie ihre Konkurrenten in China und den USA. Und die Strom- und Gasrechnungen privater Haushalte steigen und steigen und steigen.
Angst vor dem Wählerzorn
Die Klimapolitik der EU ist an der Verteuerung von Energie natürlich nicht allein schuld. Doch in der Europäischen Kommission ebenso wie in den Staatskanzleien verfestigt sich die Einsicht, dass die Hoffnungen auf eine Win-win-grüne-Wende, die von allseitigem Nutzen ist, verfehlt war. „An einem gewissen Punkt sind wir zu schnell vorangegangen“, sagte eine EU-Diplomatin am Mittwoch in Vorbereitung des EU-Gipfeltreffens in Brüssel am Donnerstag. „Und wir zahlen den Preis dafür bei Wahlen in vielen Ländern.“
Deshalb ist in den Schlussfolgerungen dieses Europäischen Ratstreffens zum ersten Mal die Rede vom sogenannten EU-ETS2. Das ist jenes Emissionshandelssystem, das ab dem Jahr 2027 nach und nach auch den Verbrauch von fossilen Brennstoffen in Gebäuden und im Verkehr bepreist. Die Idee dahinter: Lieferanten von Erdgas für die Therme im Haus, oder von Superbenzin für die Tankstelle, sollen im Ausmaß des Verbrauchs Emissionszertifikate erwerben müssen. Je höher deren Preis, desto eher lohne sich der Umstieg auf klimafreundliche Alternativen.
Bloß glaubt in den Führungskreisen der EU kaum jemand mehr an dieses marktwirtschaftlich einleuchtende Prinzip. „Ich denke, dass es mehr und mehr Regierungen gibt, die einsehen, dass das die Haushaltspreise für Strom massiv beeinträchtigen wird“, warnte die Diplomatin.
Fast alle Staaten für Reform
Eine Gruppe von Staaten aus Mittel- und Osteuropa forderte vor dem Gipfel, die Einführung von ETS2 von 2027 auf 2030 zu verschieben. Das Unbehagen ist aber nicht auf diese Region beschränkt. 19 Mitgliedstaaten forderten im Juni in einem gemeinsamen Brief die Kommission dazu auf, ETS2 gegen drohende Preiseskalationen abzusichern. Da waren auch Italien, Frankreich und Deutschland dabei.
Und so wurde auf dem Gipfel politisch beschlossen, was unausweichlich scheint: die Bedingungen für die Einführung dieses Emissionshandelssystems, das auch die Bürger direkt betrifft, werden stark gelockert. Auch die Kommission hat erkannt, dass dieses erst im Mai 2023 beschlossene System realpolitisch nicht haltbar ist. Am Mittwoch legte Klimakommissar Wopke Hoekstra einige Maßnahmen vor, um die Preiseffekte von ETS2 zu dämpfen. Er kündigt an, eine Reserve an ETS2-Zertifikaten stärker einzusetzen, um ihren Kurs zu stabilisieren. Zudem könnten Zertifikate früher als geplant versteigert werden. Das würde ihr Angebot erhöhen, und somit ihren Preis senken. „Ich verstehe die Bedenken, was Unsicherheiten betreffend künftige Preisniveaus und die Preisvolatilität im ETS2 betrifft, und teile sie mehrheitlich“, schrieb Hoekstra an die Hauptstädte.
Diese Preisanstiege fürs Heizen und Tanken könnten sonst heftig ausfallen. Die Europäische Zentralbank schätzt, dass ETS2 im Jahr 2027 mit 0,4 Prozentpunkten zur Inflation beitragen könnte. Bloomberg News hat errechnet, dass der Preis für Zertifikate im Jahr 2029 auf bis zu 149 Euro pro Tonne steigen könnte. Das wäre um 80 Prozent mehr, als Kraftwerksbetreiber und Industrieunternehmen derzeit im Emissionshandel bezahlen.
Manche fürchten, dass wir nicht in der Lage sein werden, wirtschaftlich damit umzugehen, wenn wir beim Klima zu weit gehen. Mette Frederiksen Regierungschefin Dänemark
Von Oliver Grimm
Die Presse




