Totgesagte leben länger: Der Durst nach Erdöl lässt doch nicht nach

14. November 2025, Wien

Energie. Plötzlich ist alles anders. Statt eines raschen Endes des Ölzeitalters sieht die IEA nun eine wachsende Ölnachfrage für Jahrzehnte. Die Kehrtwende ist beachtlich – und höchst politisch.

Für die meisten Delegierten, die gerade im brasilianischen Belém daran feilen, wie die Welt die Erderwärmung eindämmen könnte, ist der jüngste Jahresbericht der Internationalen Energieagentur (IEA) wohl ein Schlag ins Gesicht. Der Thinktank, gegründet vom Westen als Antwort auf den Ölpreisschock Anfang der 1970er-Jahre, war zuletzt einer der lautesten Unterstützer der globalen Energiewende. Die Welt werde ihren Durst nach Erdöl noch in diesem Jahrzehnt allmählich verlieren. Jeder Euro, der noch in Öl- und Gasprojekte investiert werde, sei eine vergebene Chance, erklärte die IEA mantra-artig.

Doch nun ist alles anders. Im aktuellen „World Energy Outlook“ der IEA findet sich an höchst prominenter Stelle auch ein Szenario von der Zukunft, in der die globale Nachfrage nach Erdöl zumindest bis 2050 weiter steil ansteigt. Also so ziemlich das Gegenteil dessen, was man bisher von der IEA gehört hatte. Was ist da passiert?

Auf Linie mit der Opec

Um sich zu verdeutlichen, wie groß diese Kehrtwende ist, lohnt ein Blick in die Archive der vergangenen Jahre. IEA-Chef Fatih Birol lieferte sich nämlich in der Öffentlichkeit einen ziemlich erbitterten Streit mit Ölproduzentenländern rund um Saudi-Arabien bezüglich der Zukunft des schwarzen Goldes. Haitham Al Ghais, Generalsekretär des Ölkartells Opec, präsentierte stets freundlichere Prognosen für den Ölkonsum, attackierte Birol mehrfach persönlich und warnte ihn davor, die Branche weiter schlechtzureden. Die IEA sieht zwar in allen am Mittwoch veröffentlichten Szenarien weiterhin ein starkes Wachstum der Erneuerbaren, zumindest in einer Variante der Zukunft rechnet sie nun aber mit einem Ölbedarf, der sich weitgehend mit den Prognosen der Opec deckt.

Der Hintergrund ist höchst politisch. Seit der Amtsübernahme von US-Präsident Donald Trump, der bekanntlich am großen Comeback der Fossilen feilt und erneuerbare Energieträger wie Wind- oder Solarkraftwerke aktiv attackiert, ist der Druck auf IEA-Chef Fatih Birol gestiegen, auch diese Realität stärker anzuerkennen. Die Vereinigten Staaten von Amerika stellen rund ein Zehntel der Mittel, aus denen sich die IEA finanziert. Die Republikaner hatten zuletzt offen damit gedroht, der in Paris ansässigen Institution den Geldhahn abzudrehen.

Die Reaktion? Im September erklärte Fatih Birol erstmals seit vielen Jahren wieder öffentlich, dass es für Unternehmen durchaus sinnvoll sein könne, Milliarden an Dollar in neue Öl- und Gasprojekte zu investieren. Für den alljährlichen „World Energy Outlook“ ließ er die Studienmethodik (erneut) umstellen. Die IEA veröffentlicht keine Prognosen, sondern stellt nur Szenarien für die Zukunft dar. Diese haben aber auf dem Markt und auch in der Politik großes Gewicht. Insofern können die Szenarien der IEA auch zu selbst erfüllenden Prophezeiungen beitragen.

Druck von Donald Trump

Die längste Zeit dominierte bei den Berichten der IEA das „Current Policy Scenario (CPS)“, bei dem quasi der Status quo fortgeschrieben wurde. Mit diesem Ansatz unterschätzte die IEA aber den Wind- und Solarboom stark und ersetzte ihn. Darum hat die IEA in den vergangenen Jahren auf diesen Blick in die Zukunft verzichtet. Stattdessen führte sie das „Stated Policies Scenario“ (STEPS) ein, das auch geplante politische Maßnahmen stark mitberücksichtigt hat.
Im aktuellen Bericht feiert das alte CPS-Szenario ein Comeback – und schon steigen die Prognosen für den Ölbedarf. Auch andere Marktakteure, wie etwa BP, haben ihre Prognosen vom „Peak Oil Demand“ zuletzt deutlich nach hinten verschoben.

Schleichende Energiewende

An der Elektrifizierung der Energiewelt und an der Energiewende an sich, führt in den Augen der IEA auch in diesem Szenario nichts vorbei. Nur findet die Umstellung eben deutlich langsamer statt, was auch den erwarteten Temperaturanstieg bis 2100 auf drei Grad nach oben drückt. „Der globale Energiesektor ist für 80 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Wer das weiß, in dem Bereich arbeitet und ein bisschen ein Gewissen hat, muss die Klimakrise ernst nehmen“, sagte Fatih Birol einst in einem Interview mit der „Presse“.

Auch deshalb finden sich in dem Report zwei weitere Szenarien wieder. Das STEPS-Szenario, das auch beschlossene aber nicht umgesetzte politische Maßnahmen mit einbezieht und das NZS-Szenario, das einen Weg zur Klimaneutralität bis 2050 nachzeichnet.

Politik entscheidet Zukunft

In den beiden Szenarien geht der Wind- und Solarboom ungebremst weiter. Die Zahl der Atomkraftwerke verdoppelt sich beinahe. Der Umstieg auf Elektroautos erfolgt schneller als im konservativen Szenario. Den Höhepunkt der Ölnachfrage datiert die Organisation im STEPS-Szenario Anfang der 2030er-Jahre. Reichlich Unsicherheit also für Konsumenten und Ölkonzerne. „Es gibt nicht nur eine mögliche Zukunft für die globale Energiewelt, sondern mehrere“, sagt Fatih Birol. „Was kommt, liegt an den Regierungen.“

Auf einen Blick

Der World Energy Outlook der Internationalen Energieagentur (IEA) sieht erstmals seit Jahren wieder ein Szenario für die Zukunft, in dem die Nachfrage nach Erdöl bis 2050 weiter steigt. Die Energiewende findet in dem Szenario zwar weiter statt, aber eben langsamer. An der voraussichtlichen Elektrifizierung der Energiewelt ändert das nichts.

Von Matthias Auer

Die Presse