Der unbeliebte Entlastungsplan

21. November 2025

Wirtschaftsministerin Reiche will energieintensive Industrien entlasten. Doch die Unternehmen bleiben skeptisch: Die Rabatte gelten nur für einen Teil des Stroms – und es müssen Gegenleistungen erbracht werden.
Der Industriestrompreis wird konkret: Ab 2026 sollen Unternehmen aus 91 Sektoren der energieintensiven Industrie entlastet werden. Das geht aus einem internen Konzept des Bundeswirtschaftsministeriums hervor, das dem Handelsblatt vorliegt.


Doch die geplanten Details des Industriestrompreises entwerten das Instrument nach Einschätzung betroffener Unternehmen erheblich. Im Zentrum der Kritik steht dabei, dass der Nachlass auf den Strompreis nur für die Hälfte des bezogenen Stroms gewährt wird. Der von der Koalition in Aussicht gestellte Industriestrompreis von fünf Cent werde bei Weitem verfehlt. Außerdem kritisieren Unternehmen, dass sie mindestens die Hälfte des Rabatts, der ihnen gewährt wird, in „Gegenleistungen“ investieren müssen.


„Warum beim Industriestrompreis nur 50 Prozent des Stromverbrauchs gefährdeter Branchen entlastet werden soll, ist mir völlig unklar“, sagte Philip Nuyken, Geschäftsführer Politik beim Bundesverband der Deutschen Kalkindustrie. „Darüber hinaus bleibt es falsch, Entlastungen als Schutz der Wettbewerbsfähigkeit durch Investitionsanforderungen in Gegenleistungen ad absurdum zu führen“, sagte er.
Mit der Begrenzung des Nachlasses auf die Hälfte der Strommenge folgt das Konzept des Bundeswirtschaftsministeriums den „CISAF“ genannten EU-Beihilfeleitlinien. CISAF steht für Clean Industrial Deal State Aid Framework. Auch die geforderten Gegenleistungen im Konzept des Ministeriums folgen den Vorgaben von CISAF. Das gilt ebenfalls für die vom Bundeswirtschaftsministerium angekündigte zeitliche Begrenzung des Instruments auf drei Jahre.


Die Kalkbranche steht mit ihrer Kritik nicht allein. Holger Lösch, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BDI, sagte dem Handelsblatt, die EU müsse sich fragen lassen, „wie die politische Rhetorik zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit mit derart restriktiven Umsetzungsvorschriften zusammenpasst“. Der EU-Rahmen müsse dringend überarbeitet und flexibilisiert werden, sagte Lösch.


Christian Seyfert, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK), sagte dem Handelsblatt, Verpflichtungen zu ökologischen Gegenleistungen stellten „stets eine erhebliche Verengung der betriebswirtschaftlichen Handlungsspielräume dar“. Im VIK sind große Strom- und Gasverbraucher aus der Industrie zusammengeschlossen.
Das Wirtschaftsministerium will laut Konzept folgende Maßnahmen als Gegenleistungen anerkennen:
Entwicklung von Kapazitäten zur Erzeugung erneuerbarer Energie Energiespeicherlösungen Maßnahmen zur Erhöhung der nachfrageseitigen Flexibilität


Verbesserungen der Energieeffizienz, die sich auf den Strombedarf auswirken Entwicklung von Elektrolyseuren für die Erzeugung von erneuerbarem oder kohlenstoffarmen Wasserstoff auf Elektrifizierung ausgerichtete Investitionen.


Weitere Investitionen, die man noch mit der EU hineinverhandeln will, sind Netzanschlüsse oder Direktverträge (PPA) mit Erneuerbaren-Anlagen. Weitere Vorgabe: „Die Maßnahme muss innerhalb von 48 Monaten nach Gewährung der Beihilfe umgesetzt werden.“ VIK-Hauptgeschäftsführer Seyfert kritisierte, die Frist zur Umsetzung der Gegenmaßnahmen könne in vielen Fällen zu kurz sein. Die im Konzept des Bundeswirtschaftsministeriums genannte Möglichkeit, die Frist aus technischen Gründen zu verlängern, sei daher „dringend notwendig“, sagte Seyfert.
Das Wirtschaftsministerium will zudem einen „Flexibilitäts-Bonus“ einführen: Wenn das Unternehmen nachweist, dass mindestens 80 Prozent der Investitionen aus den Mitteln für mehr Flexibilität bei der Stromnachfrage eingesetzt werden, erhöht sich der Förderbetrag um zehn Prozent. Eine flexiblere Nachfrage der Industrie gilt als Schlüssel, um die Erneuerbaren besser zu nutzen. Denn die produzieren zu manchen Tages- und Jahreszeiten deutlich mehr Strom als zu anderen.


Kritisch wird in der Industrie die mit den Gegenleistungen verbundene Bürokratie gesehen. Bei der Gießerei Siempelkamp in Krefeld hieß es, schon frühere ökologische Gegenleistungen hätten gezeigt, dass diese mit komplexen Antragsverfahren, detaillierten Nachweispflichten und nicht unerheblichen Beratungs- und Gutachtenkosten verbunden seien. Ein Teil der nominalen Entlastung werde damit direkt durch zusätzlichen administrativen Aufwand aufgezehrt. „Somit verbleibt bei den Unternehmen doch nur ein mittlerer einstelliger Prozentwert der Stromkosten als tatsächliche Entlastung“, sagte Siempelkamp-Geschäftsführer Georg Geier.


Fünf Cent bei Weitem nicht erreichbar
Tatsächlich wird die Regelung in der Praxis bei Weitem nicht zu dem von der Koalition in Aussicht gestellten Preis von fünf Cent je Kilowattstunde führen. Wenn man davon ausgeht, dass ein Unternehmen heute Strom zu einem Großhandelspreis von acht Cent je Kilowattstunde bezieht, ergibt sich folgendes Bild: Der Strompreis für eine Hälfte darf dann auf bis zu fünf Cent heruntersubventioniert werden. Bezogen auf die gesamte Strommenge bedeutet das einen durchschnittlichen Bezugspreis von 6,5 Cent.


Die Hälfte des Rabatts, die in Gegenleistungen fließt, steht für die kurzfristige Kostensenkung und damit zum Angebot günstigerer Produkte nicht zur Verfügung. Das eingerechnet, ergibt sich ein Industriestrompreis von 7,25 Cent. Der Rabatt beläuft sich somit auf neun Prozent.
Außerdem betrifft der Industriestrompreis, der durch CISAF definiert wird, allein die Strombeschaffung. Alle weiteren Kosten, also etwa Netzentgelte sowie Abgaben und Umlagen, bleiben unberücksichtigt. Dabei sind diese Kosten gerade in Deutschland besonders hoch.


Das Haus von Ministerin Katherina Reiche (CDU) will sich bei der Auswahl der antragsberechtigten Unternehmen an der EU-Liste „Kuebll“ orientieren, die besonders stromintensive und im internationalen Wettbewerb stehende Unternehmen auflistet. Konkret soll der Industriestrompreis für einen Teil der Unternehmen von der Liste gelten. Zu den 91 Sektoren und Teilsektoren gehören laut dem Konzeptpapier folgende Bereiche:
Teile der chemischen Industrie die Metallindustrie Gummi- und Kunststoffverarbeitung Glas- und Keramikherstellung
die Produktion von Zement, Batteriezellen und Halbleitern Teile der Papierindustrie, der Rohstoffgewinnung und des Maschinenbaus.


Der Koalitionsausschuss von CDU, CSU und SPD hatte sich darauf verständigt, dass Unternehmen ab 2027 den Industriestrompreis beantragen und rückwirkend ab 2026 ausgezahlt bekommen können. Die Verhandlungen mit der Europäischen Kommission stehen offenbar kurz vor dem Abschluss. Die Kosten sollen bei 3,1 Milliarden Euro über drei Jahre liegen.


Eine weitere EU-Vorgabe ist, dass Unternehmen nicht zeitgleich den Industriestrompreis und die Strompreiskompensation in Anspruch nehmen können. Letztere ist eine bestehende Hilfe, die energieintensive Betriebe für CO2-Kosten kompensiert. Wirtschaftsministerin Reiche verhandelt derzeit mit Brüssel über eine Ausweitung und eine Verlängerung der Strompreiskompensation. Große Teile der Industrie fordern, die Bundesregierung müsse darauf hinwirken, dass die Unternehmen beide Hilfen gleichzeitig bekommen können. Im Konzept wird dieser Wunsch nicht erfüllt.

Handelsblatt