Der neue RWE-Chef Markus Krebber hat genug von den Klimaphrasen der Politik: Ohne radikale Reformen seien die CO2-Ziele nicht zu erreichen. Dafür jedoch bleiben nur wenige Monate Zeit.
Der langjährige Klimasünder RWE will grün werden und arbeitet erstaunlich konsequent an diesem Ziel. Krebber, 48, war knapp fünf Jahre lang Finanzvorstand des Energiekonzerns und wurde im Mai 2021 Vorstandsvorsitzender. Er hat sich vorgenommen, nicht mehr in fossile Technik zu investieren.
SPIEGEL: Herr Krebber, in wenigen Tagen ist Bundestagswahl. In früheren Jahren zogen die Lobbyisten von RWE aus, um kohlefreundlichen Abgeordneten der SPD und der CDU unter die Arme zu greifen. Wem hilft der Konzern heute?
Krebber: Wir helfen nicht im Wahlkampf, und wir haben auch keine wirklichen Präferenzen. Aber wir haben einen Wunsch an die nächste Bundesregierung.
SPIEGEL: Welchen?
Krebber: Sie muss die Energiewende schneller umsetzen, und dazu muss sie durchsetzungsstark, kraftvoll und entscheidungsfreudig auftreten.
SPIEGEL: Das sind ungewohnte Töne aus dem Mund eines RWE-Chefs. Ihre Vorgänger haben sich immer das Gegenteil gewünscht. Heißt das, Sie könnten auch mit einer grünen Bundeskanzlerin leben?
Krebber: Bei den energiepolitischen Vorstellungen liegen die Parteien gar nicht mehr so weit auseinander. Wir arbeiten mit jeder zukünftigen Bundesregierung konstruktiv und gut zusammen.
SPIEGEL: Das wird auch Zeit. In nahezu allen Feldern der Energiepolitik bleibt Deutschland hinter seinen Zielen zurück. Wichtige Projekte wie der Aufbau von Netzen und Windparks kommen kaum voran. Was ist da falsch gelaufen?
Krebber: Die Politik hat die Energiewende oft als Problem gesehen und nicht als Chance für den Standort und die Wirtschaft. Man sieht das etwa an der absurden Diskussion um die richtigen Abstandsregeln für Windanlagen oder an der quälenden Planung der Stromtrassen. Das hat die Sache erheblich blockiert.
SPIEGEL: Oft lag das an Klagen von besorgten Bürgern und Verbänden.
Krebber: Man braucht für einen so radikalen Wandel die Akzeptanz der Menschen. Man muss ihnen sagen, dass in der Veränderung eine Chance liegt, dass Investitionen in grüne Infrastruktur oder in Digitalisierung nötig sind, um unseren Wohlstand zu halten. Dieser Dialog hat kaum stattgefunden. Das war ein Fehler, den man sich ankreiden lassen muss.
SPIEGEL: Die Energieversorger eingeschlossen.
Krebber: Warum?
SPIEGEL: Weil die Energiewende auch in den Konzernen nicht als Chance begriffen wurde. Im Gegenteil: Lange Jahre galt sie als Gefahr für das Geschäft. Ihre Vorgänger haben erzählt, grüne Energie sei teuer und unzuverlässig. In Wahrheit wollten sie möglichst lange am Kohle- und Atomstrom festhalten.
Krebber: Es fällt mir schwer, über Dinge zu sprechen, die meine Vorgänger zu verantworten haben. RWE hat die Weichen für eine reine Grünstromproduktion im Jahr 2017 gestellt. Und wenn wir heute noch in Teilen an alten Technologien wie der Kohle festhalten müssen, hat das damit zu tun, dass wir mit den neuen Energien nicht so schnell vorankommen, wie wir das wollen. Wir würden gern weitere Milliarden in Grünstromprojekte investieren.
SPIEGEL: Warum tun Sie es dann nicht?
Krebber: Weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Wir warten extrem lange auf rechtssichere Genehmigungen oder Netzanschlüsse. Im Schnitt haben wir bei Windparks Verzögerungen von fünf bis sieben Jahren. Deshalb können wir die konventionellen Kraftwerke nicht so schnell abschalten, wie wir das müssten, um die Klimaziele zu erreichen.
SPIEGEL: Was muss die neue Bundesregierung tun, um das zu ändern?
Krebber: Alle wichtigen Beschlüsse in Sachen Klima- und Energiepolitik müssen in der ersten Hälfte der Legislaturperiode durchgesetzt werden. Danach ist es zu spät. Alles, was wir jetzt nicht anpacken, wird 2045 nicht zur CO2-Minderung beitragen. Wir brauchen mehr Flächen für erneuerbare Energien und schnellere Genehmigungsverfahren mit einer klaren Einschränkung der Klagemöglichkeiten. Wir müssen aus der Stromwende eine Energiewende machen und Sektoren wie Verkehr und Wohnungswirtschaft stärker einbeziehen. Und wir müssen den Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft vorantreiben. Bei alldem darf die Stromversorgung nicht zusammenbrechen.
SPIEGEL: Selbst wenn die Politik das schafft, würden die Maßnahmen durch die absehbaren Proteste und Klagen verzögert. Wie wollen Sie das verhindern?
Krebber: Als Unternehmen können wir da gar nichts tun. Da ist der Gesetzgeber gefragt. Das ganze System aus Genehmigungsverfahren und Klagemöglichkeiten ist inzwischen in sich so widersprüchlich, dass es für uns überhaupt keine Handlungsspielräume mehr gibt. Wir sind wie gefangen.
SPIEGEL: Sie sprechen in Rätseln.
Krebber: Ein Beispiel: Es gibt ernst zu nehmende Stimmen, die behaupten, man könne auf der Grundlage der heutigen Rechtsordnung Unternehmen auf Schadensersatz verklagen, weil sie zu viel CO2 ausstoßen…
SPIEGEL: …wie das etwa in den Niederlanden mit Shell passiert ist und sich in Deutschland gerade mit der Klage von Greenpeace und Deutscher Umwelthilfe gegen Autohersteller sowie den Öl- und Gaskonzern Wintershall wiederholt.
Krebber: Aber was geschieht, wenn die Betreiber von fossilen Kraftwerken auf solche Klagen reagieren und ihre alten Kraftwerke morgen bei der Bundesnetzagentur zur Schließung anmelden würden? Dann würde die Behörde auf Basis des geltenden Rechts sagen: „Das geht nicht, denn ihr müsst die Versorgungssicherheit sicherstellen.“ Wir könnten dann versuchen, das Problem zu ¬lösen, indem wir Windparks und grüne ¬Energien aufbauen – laufen dabei indes Gefahr, in den Konflikt zwischen Klimaschutz und Artenschutz zu geraten. Diesen Teufelskreis kann nur der Gesetzgeber durch¬brechen.
SPIEGEL: Dadurch würden legitime Rechte vieler Menschen beschnitten. Nehmen Sie den Fall des peruanischen Bauern, der RWE als einen der größten CO2-Emittenten verklagt hat. Er argumentiert, dass die von RWE mitverschuldete Erderwärmung ihm die Grundlage für den Ackerbau genommen hat. Das Gericht in Hamm scheint das zumindest für so plausibel zu halten, dass es jetzt einen Ortstermin in Peru anberaumt hat.
Krebber: Ich will hier wirklich keine Gerichtsschelte betreiben. Aber das ist grotesk. Wir haben in der Vergangenheit immer auf der Basis geltenden Rechts und geltender Genehmigungen Strom produziert und sollen jetzt Schadensersatz an einen peruanischen Bauern zahlen, weil dort in einem Gletschersee angeblich das Wasser steigt und er seine Lebensgrundlage bedroht sieht. Wo soll das denn enden? Im nächsten Schritt verklagt Sie Ihr Nachbar, weil Sie ein zu großes Auto fahren oder zu häufig in den Urlaub fliegen. Das kann niemand wirklich wollen.
SPIEGEL: Aber auch nicht, dass sich Menschen nicht mehr gegen Großkonzerne zur Wehr setzen können.
Krebber: Einverstanden. Trotzdem müssen wir an den Kern des Problems und den Aufbau von erneuerbaren Energien so vereinfachen, dass wir den weltweiten Bedarf schnell befriedigen können. Viele Probleme lösen sich dann von allein. Mit mehr grüner Energie produzieren wir weniger CO2, die Kosten für Strom sinken, und wir können konventionelle Kraftwerke früher abschalten.
SPIEGEL: Im vergangenen Jahr hat RWE mehrere Milliarden Euro vom Steuerzahler bekommen, weil der Konzern diverse Braunkohlemeiler früher als geplant vom Netz nimmt. Auch jetzt werden Stimmen laut, den Kohleausstieg wegen der verschärften Klimaziele noch einmal um einige Jahre vorzuziehen. Verlangen Sie wieder Schadensersatz?
Krebber: Die Frage stellt sich nicht. Bisher ist niemand mit dieser Forderung an uns herangetreten. Außerdem werden die verbliebenen Kraftwerke dringend gebraucht, um die Strom¬versorgung in Deutschland aufrecht¬zuerhalten.
SPIEGEL: Das klingt, als hätte der Poker um weitere Milliarden schon begonnen. Beim Geld hört Ihre grüne Gesinnung offenbar ¬wieder auf.
Krebber: Ich pokere nicht. Mir geht es um Alternativen. Wenn wir genügend Grünstromkapazitäten in Deutschland aufbauen können, muss man nicht über Kompensation nachdenken. Dann erledigt sich das Thema Kohlestrom von allein.
SPIEGEL: Das heißt, Sie wollen diesmal kein Geld, sondern Flächen für Windräder und Solarparks? Ist das Ihre Forderung?
Krebber: Ich stelle keine Forderungen. Ich weise lediglich darauf hin, was wir jetzt tun müssen…
SPIEGEL: …und was ganz nebenbei gut für Ihr Geschäft ist.
Krebber: Das ist richtig. Denn wir sind ein Teil der Lösung. Wer soll denn Anlagen, Netze und Leitungen für Wasserstoff aufbauen, wenn nicht die Energieversorger? Wir haben gerade hier in Nordrhein-Westfalen eine funktionierende Infrastruktur, die wir für Ökostrom und für Wasserstoff nutzen können. Das ist viel wert, und das sollten wir nicht verspielen.
SPIEGEL: Der Umstieg auf Wasserstoff wird von der Politik und der Industrie seit Monaten als Königsweg zur CO2-Reduktion gepriesen. Trotzdem passiert herzlich wenig. Investitionen gibt es kaum. Woran liegt das?
Krebber: Wir haben da so etwas wie ein Henne-Ei-Problem. Die Industrieunternehmen müssten eigentlich jetzt entscheiden, ob sie beim nächsten Investitionszyklus auf Wasserstoff setzen. Beim Stahl etwa geht es um den Bau alternativer Hochöfen. Das kostet mehrere Milliarden Euro. Die Konzerne wissen aber nicht, ob an ihrem Standort demnächst überhaupt genügend Wasserstoff zur Verfügung stehen wird. Also zögern sie. Wir als Energieversorger wollen Wasserstoff produzieren. Nur wissen wir nicht, ob es Leitungen gibt, mit denen wir ihn transportieren können. Die Ungewissheit lähmt.
SPIEGEL: Was wäre die Lösung?
Krebber: Wir brauchen eine Art Masterplan mit einem belastbaren Netzausbauplan für Strom und Wasserstoff.
SPIEGEL: Wo soll denn der grüne Strom zur Herstellung von Wasserstoff herkommen? Wir haben doch jetzt schon einen Mangel an Windrädern.
Krebber: Das kommt darauf an, wie man grünen Strom definiert.
SPIEGEL: Was gibt es da zu definieren? Das ist Strom, der aus Wind, Wasser oder Sonne gewonnen und für die Elektrolyse eingesetzt wird.
Krebber: Die Frage ist, ob es zusätzlicher Strom sein muss. Wenn wir die Vorschläge der EU-Kommission nehmen, muss Strom zur grünen Wasserstofferzeugung aus neuen, zusätzlich gebauten Anlagen stammen, die in der Nähe des Elektrolyseurs stehen. Würde das so umgesetzt, brauchen wir gar nicht erst mit der Umstellung anzufangen.
SPIEGEL: Warum?
Krebber: Aus den bereits genannten Gründen. Bis die ersten Windräder dafür gebaut sind und in Betrieb gehen, vergehen mindestens sieben Jahre.
SPIEGEL: Woher soll der Strom dann ¬kommen?
Krebber: Aus dem Netz.
SPIEGEL: Das ist doch Etikettenschwindel. Es würde dazu führen, dass die Haushalte länger mit Kohle- oder importiertem Atomstrom leben müssen.
Krebber: Nein, denn die CO2-Emissionen des Stroms aus dem Netz sind ja durch den Emissionshandel gedeckelt und können nicht steigen. In der Startphase sind pragmatische Lösungen wichtig, denn erneuerbare Energien und Wasserstoff entstehen nicht auf Knopfdruck. Schaffen wir die Umstellung nicht, wird die energieintensive Industrie nicht hier investieren, sondern in Ländern, in denen ausreichend grüne Energie bereitgestellt werden kann.
SPIEGEL: Was wäre daran so schlimm? Neue Standorte wurden auch in der Vergangenheit immer dort gebaut, wo Rohstoffe und Energie preiswert und ausreichend vorhanden waren.
Krebber: Wir würden die hervorragenden Wertschöpfungsketten verlieren. Nach der Stahl- ginge die Autoindustrie, dann die Zulieferer. Wir würden Wohlstand einbüßen und Akzeptanz für die Umbaupläne. Das möchte ich nicht erleben.
„Mit genügend Grünstromkapazitäten erledigt sich das Kohlethema von allein.“
DER SPIEGEL
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