Noch ist die Taxonomie für nachhaltige Investments nicht fixiert – doch der Vorschlag der EU-Kommission, dass auch Atomstrom und Erdgas aufgenommen werden, dürfte halten.
Frage: Die Europäische Kommission hat den Entwurf noch in den letzten Stunden des alten Jahres an die Mitgliedsstaaten geschickt.
Eine Provokation?
Antwort: Prinzipiell war es nicht so sehr eine „Nacht-und-Nebel-Aktion“ der Kommission, wie es Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler nennt, sondern wahrscheinlich eher schlechte Organisation, die dazu geführt hat, dass der Entwurf für die „Taxonomie“-Liste so spät ausgeschickt worden ist. Denn die Kommission hat bereits lange angekündigt, dass es diese Liste noch im Jahr 2021 geben wird. Also haben es die Beamten der Behörde quasi noch in letzter Minute geschafft, die selbstgesetzte Frist einzuhalten. Eine schiefe Optik hat es aber allemal.Frage: Welche Länder freuen sich über das künftige grüne Label für Atomstrom?
Antwort: Den lautesten Applaus hört man aus Paris. Denn bereits im Oktober hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron angekündigt, dass man mehr als eine Milliarde Euro in den Bau kleiner Atomkraftwerke investieren will. Ebenso soll das Geld für die Forschung nach sicherem Umgang mit Atommüll bereitstehen. Die Atomindustrie sei „ein Glück für das Land“, sagte Macron damals im Élysée-Palast. Auch in Polen dürfte die Freude über die Kommissionsentscheidung groß sein. Hat das Land doch eben erst mit dem Bau seines ersten Atomkraftwerks an der Ostsee begonnen. Es soll 2026 ans Netz gehen.
Frage: Könnte der Vorschlag der Kommission zu einer Rückkehr mancher Länder zum Atomstrom führen?
Antwort: Möglich ist es natürlich. In Italien wurde durch die Taxonomie-Liste eine erneute Debatte darüber angestoßen. Eigentlich ist das Land seit den 1980er-Jahren und der Katastrophe von Tschernobyl aus der Kernenergie ausgestiegen, doch die rechte Lega unter Matteo Salvini denkt laut über eine Rückkehr nach. Auf Twitter kündigte der Parteichef an, Unterschriften für ein entsprechendes Referendum sammeln zu wollen.
Frage: In Deutschland sind mit dem Jahreswechsel gerade erst drei Atomkraftwerke vom Netz gegangen. Wie reagiert die neue Regierung in Berlin auf den Kommissionsvorschlag?
Antwort: In einer ersten Reaktion gab es heftige Kritik – vor allem von den Grünen. Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck sowie Umweltministerin Steffi Lemke kündigten am Wochenende an, dass sie den Vorschlag nicht unterstützen würden. Habeck sprach von „Greenwashing“ von Atomenergie. Der Kommissionsvorschlag „verwässert das gute Label für Nachhaltigkeit“. Doch am Montag schlossen sich die Reihen der Ampelkoalition in Berlin. Regierungssprecher Steffen Hebestreit sprach von Einigkeit unter den drei Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP. Berlin würden sich nicht querlegen.
Frage: Nicht nur Atomstrom wird nun „grün“, sondern auch vorübergehend Erdgas. Wer profitiert davon?
Antwort: Damit wurde vor allem Deutschland beglückt. Denn es kann durch die Abschaltung seiner AKWs und den Kohleausstieg bis 2038 die entstehende Lücke kaum mit erneuerbarer Energie füllen. Durch den Bau neuer Gaskraftwerke und vor allem durch Lieferungen über die Pipeline Nord Stream 2 soll das Loch gestopft werden. Weil Erdgas aber durch den Ausstoß an CO2 nicht klimafreundlich ist, soll es als „Brücken- oder Übergangstechnologie“ eingesetzt werden. Es sollen auch nur Gaskraftwerke als nachhaltig gelten, die mittelfristig auf Wasserstofftechnologie umgerüstet werden können.
Frage: Österreich ist der lauteste Gegner des Vorschlags. Wer unterstützt denn die Regierung in Wien?
Antwort: Beim UN-Klimagipfel in Glasgow formierte sich ein Staatenbündnis gegen „atomfreie Taxonomie“, das die Umweltministerinnen und -minister von Deutschland, Dänemark, Portugal, Österreich und Luxemburg schmiedeten. Sie plädieren gegen Atomkraft und Erdgas und das dazugehörige Greenwashing im Rahmen der Taxonomie für nachhaltige Investments. Da Deutschland mit Gas bedient wird und sich nicht gegen den von der EU-Kommission vorgelegten Entwurf stellen wird, bleibt die Allianz der Atomkraft-Befürworter mit Frankreich, Tschechien und Polen an der Spitze weit gewichtiger als die Gegner aus den Reihen der Kleinstaaten.
Der Standard