„Fit for 55“ – Startschuss für Marathon zum Klimaziel

9. Juli 2021, Brüssel/Berlin

Der Name erinnert an den guten alten Trimm-Dich-Pfad, doch das geplante EU-Klimaschutzprogramm „Fit for 55“ wird wahrlich ein Kraftakt für alle Europäer: Wer in Slowenien tankt wird es ebenso spüren wie der Stahlkonzern in Duisburg. Wer sein Haus in Finnland heizen will wird genauso rechnen wie der Autoproduzent in Wolfsburg oder der Reeder in Rotterdam.

Das neue Ziel der EU, bis 2030 mindestens 55 Prozent des CO2-Ausstoßes einzusparen im Vergleich zu 1990, scheint zunächst nicht dramatisch schärfer als die bisherigen 40 Prozent. Aber es geht nicht mehr allein um eine Energiewende, die Strom etwas teurer macht. Es geht um eine Verkehrswende zu Land, auf dem Meer, in der Luft – letztlich bis zum fast vollständigen Verzicht auf Öl, Kohle oder Gas. Für Deutschland besonders brisant – es geht um eine Industriewende hin zu grünen Technologien. Und es geht um Billionen.

Wenn Vize-Kommissionspräsident Frans Timmermans die Pläne am nächsten Mittwoch in Brüssel vorstellt, wird er neue EU-Vorgaben mit zwölf Einzelgesetzen anstoßen. Auch wenn erst wenige Einzelheiten durchgesickert sind, klar ist schon jetzt: „Fit for 55“ wird ein selbst für EU-Verhältnisse intensives, mehrjähriges Ringen auslösen, bis sich Staaten und Parlament verständigt haben werden.

„Es hat einen ganz anderen Charakter als frühere Klimapakete, weil man jetzt auch über Dinge wie Verbote spricht, die sonst Tabu waren“, sagt Andreas Graf von der Denkfabrik Agora in Brüssel. Zwar sei immer wieder über neue Klimainstrumente diskutiert worden. „Aber es ging immer nur um Kosten, was können wir uns leisten. Jetzt wird von den Zielen her argumentiert.“ Und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist sich sicher: „Alles, womit wir es uns in den letzten 150 Jahren hier nett gemacht haben, müssen wir verändern – vom Wirtschaften über die Mobilität bis hin zum Wohnen.“

Im Kern hatte die EU den Klimaschutz bisher auf zwei Wegen vorangetrieben: Zum einen müssen Kraftwerke und Industrie-Betriebe Rechte zum CO2-Ausstoß erwerben. Die Zahl dieser Zertifikate wird jährlich gekürzt. Wer klimafreundlich produziert, kann überschüssige Verschmutzungsrechte über die Börse an solche verkaufen, die zusätzliche brauchen. Mit diesem Emissionshandel kontrolliert die EU etwa 40 Prozent des CO2-Ausstoßes in der EU.

Für die übrigen Treibhausgase – vor allem aus dem Verkehrs- und Gebäudesektor – hat die EU zwar Ziele vorgegeben. Wie und vor allem mit welchen Instrumenten diese erreicht werden, blieb aber bisher den Staaten weitgehend überlassen. Nicht nur Deutschland hinkt da hinterher. Dies war ein Grund, warum die Koalition ein Klimaschutzgesetz mit detaillierten Vorgaben beschloss. Und man verständigte sich auf einen neuen CO2-Preis auf Sprit, Heizöl oder Gas, der seit Anfang des Jahres greift.

Genau dies wird wohl Kernpunkt der Vorschläge Timmermans: Die EU will einen solchen Preis europaweit einführen, um die Wende hin zu klimafreundlichem Verkehr und Heizen voranzutreiben. Während Deutschland einen festen Preis- Aufschlag hat – derzeit für den Liter Sprit etwa acht Cent – fasst die EU ein Handelssystem mit Emissionsrechten wie für Industrie und Kraftwerke ins Auge. Es wird also eine bestimmte Zahl von CO2-Zertifikaten geben, die dann jährlich gekürzt werden.

Fossile Brennstoffe würden so von Portugal bis Polen teurer. Um einen Aufschrei wie bei der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich zu verhindern, sollen die Staaten die Einnahmen im Wesentlichen zur Entlastung der ärmeren Menschen einsetzen. Flankiert werde könnte dies von strengeren Grenzwerten für den CO2-Ausstoß von Autos. Damit würden indirekt die Kosten für Pendler gemildert und der Ausbau der E-Auto-Flotte beschleunigt.

Mindestens genauso umstritten, aber technisch weit komplizierter, wird der verschärfte Klimaschutz für Industriezweige wie Stahl, Zement oder Chemie. Und das beunruhigt vor allem Deutschland und den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). „Die Frage ist: Wird es bloß ein Klimapaket, das vielleicht anderen Zielen wie Wohlstand und Beschäftigung entgegensteht? Oder gelingt es, diese Pole zu einer großen Wachstumsstrategie zu verknüpfen?“, sagt BDI-Vize-Hauptgeschäftsführer Lösch im Gespräch mit Reuters.

Da viele Firmen im weltweiten Wettbewerb mit Staaten stehen, in denen Klimaschutz nicht so großgeschrieben wird, haben sie zuletzt um die 80 Prozent ihrer nötigen CO2-Zertifikate gratis bekommen. Lange waren auch die übrigen erschwinglich, denn der Börsenpreis für sie lag vergleichsweise niedrig. Das hat sich geändert: Die Preise haben sich innerhalb eines Jahres verdreifacht, die Branchen leiden schon jetzt. Aber auf dem Weg zum neuen EU-Klimaziel müssen Gratis-Zuteilungen gekürzt und insgesamt weniger ausgegeben werden. „Das Risiko jetzt ist, dass der bestehende Schutz von Unternehmen im internationalen Wettbewerb nicht mehr ausreicht“, fürchtet Lösch.

Um die Betriebe dennoch im Wettbewerb zu halten, will die EU eine Grenzsteuer einführen. „Schmutziger“ Stahl soll mit einem Zoll belegt werden, um teureren „grünen“ zu schützen. Lösch ist mehr als skeptisch: Die Umsetzung sei komplex. Die Kontrolle, wie „grün“ Import-Stahl tatsächlich ist, sei schwierig. Und die Europäer würden etwa mit den Chinesen auf anderen Märkten außerhalb der EU konkurrieren, wo der Schutz nicht wirke. „Es könnten Handelskonflikte drohen, wenn die Grenzsteuer nicht mit dem Welthandelsrecht im Einklang steht“, warnt Lösch.

Das macht „Fit for 55“ noch einmal schwerer. Neben dem Widerstand innerhalb Europas gegen das Gesetzespaket haben bei der Grenzsteuer auch schon Staaten wie die USA und China Protest angemeldet. „Fit for 55“ wird auch deshalb eher als Marathon als ein Trimm-Dich-Pfad.

APA/ag

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