Der Gasmarkt ist im Umbruch

14. September 2021, Wien

Die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 ist fertig, die Speicher sind vergleichsweise leer und die Gaspreise so hoch wie nie. Warum das so ist und was das für die Gaskunden bedeutet, dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen.

Das letzte Rohr wurde bereits am Montag verlegt, am Freitag um 7.45 Uhr war die umstrittene Gaspipeline durch die Ostsee, Nord Stream 2, dann tatsächlich fertig verschweißt. Das vermeldete Alexej Miller, Chef des russischen Gasriesen Gazprom, dem die 1230 Kilometer lange, zweistrangige Leitung gehört. Jetzt braucht es noch die Zertifizierung der deutschen Behörden, dann können bis zu 55 Mrd. Kubikmeter Gas pro Jahr von Wyborg in Russland nach Greifswald in Deutschland fließen. Erste kleine Mengen sollen schon ab Oktober kommen – durch den Strang, der bereits im Juni verlegt wurde.


Laut Plan sollten die Bauarbeiten an einem der umstrittensten internationalen Energieinfrastruktur-projekte Ende 2019 beendet sein. Die USA haben das mit ihren Sanktionen verhindert. Washington sieht Nord Stream 2 als weiteren Hebel Moskaus, um die Energieabhängigkeit Europas von Russland zu vergrößern.


Die Fertigstellung der Pipeline fällt in turbulente Zeiten auf den europäischen Gasmärkten: Mit fast 55 Euro je Megawattstunde (MWh) sind die Preise für Erdgas zur Lieferung am nächsten Tag an den Börsen so hoch wie kaum je zuvor, schon gar nicht auf Dauer. Seit dem Frühjahr klettern die Preise kontinuierlich, nachdem sie in der Coronakrise zwischen April und Juni im Vorjahr auf unter fünf Euro je Megawattstunde gefallen waren.


„Man könnte daraus schließen, dass die höheren CO2-Preise Kohle verdrängen“, sagt Johannes Mayer, Marktexperte bei der Regulierungsbehörde E-Control. Doch bisher gebe es keine solchen Signale von großen Verbrauchern und Exporteuren, weder aus China, wo Kohlekraftwerke wieder in Betrieb gehen, noch aus Australien. Wartungsarbeiten in Norwegen und eine Explosion im russischen Gasfeld Urengoy reichen zur Erklärung nicht aus. Im Markt wird gemutmaßt, dass Hauptlieferant Gazprom seine Finger im Spiel hat und mit geringeren Liefermengen durch die Ukraine den Boden für Nord Stream bereitet.


Nicht zuletzt lässt aber der rasante Wirtschaftsaufschwung nach der Coronarezession die Energienachfrage und die Preise weltweit steigen. Die großen Flüssiggasproduzenten wie Katar und die USA leiteten immer öfter ihre Schiffe nach Südostasien um, sagt Mayer – wo noch mehr bezahlt wird. In Europa macht LNG (Liquid Natural Gas) heute rund ein Fünftel des Markts aus, bestimmt aber den Preis, seit die Langfrist-Lieferverträge an die Spotpreise gekoppelt wurden.


Entspannung erwartet Experte Mayer erst ab dem zweiten Quartal 2002, also nach der Heizsaison, weil sich die Konjunktur auch in Asien wieder normalisieren und Nord Stream 2 voll in Betrieb sein sollte. Die Notierungen sinken auf 30–35 Euro je MWh, ab 2023 wieder in Richtung der langjährigen Durchschnittspreise von 20 Euro je MWh.
Wie sehr Gasverbraucher die Preisrallye spüren werden, wagt Lukas Zwieb von der Österreichischen Energieagentur nicht zu sagen. Es sei zu erwarten, dass die Versorger nachziehen, wenn die Börsenpreise hoch bleiben. „Bisher sehen wir nichts und wurde uns noch nichts gemeldet“, sagt er. Generell reagieren Endkundenpreise bei Gas sehr verzögert oder gar nicht, weil Versorger langfristig und oft günstiger einkaufen. Der Preisverfall vom Vorjahr wurde nicht weitergegeben.


Wegen der Preise sind auch Österreichs Gasspeicher zu Sommerende weniger voll als im Vorjahr. Der Befüllungsstand lag Mitte der Woche laut AGSI, einer europäischen Plattform, die die genauen Lagerstände erfasst, bei 48,2 Prozent, verglichen mit üblichen 60 bis 80 Prozent Anfang September. Teures Gas biete wenig Anreiz zum Speichern, heißt es vom Öl- und Gaskonzern OMV, die Versorgung im Winter sei aber mehr als gesichert. Als Daumenregel gilt, dass gut ein Drittel des Jahresverbrauchs eingelagert sein sollte.


Carola Millgramm, Leiterin der Gasabteilung in der E-Control, hat noch eine Erklärung für den niedrigen Speicherstand: Die Gazprom habe ihren Speicher im oberösterreichischen Haidach (der nicht für Österreich bestimmt ist) fast ganz geleert, ebenso wie in einen großen in Deutschland. „Ohne Haidach sind wir gut gefüllt“, sagt Millgramm und rechnet damit, dass die EU-Kommission diese Vorgänge auch genauer untersuchen wird. Ob die heimischen Versorger auf kritische Situationen in der Heizsaison ab 1. Oktober vorbereitet sind, prüft die E-Control derzeit. Aus Sicht der Gasexpertin ist nicht unüblich, bis November einzuspeichern, solange es genug Gas und Importrouten gebe. „Das ist alles normal – außer die Preise“, sagt sie.

von MONIKA Graf

Salzburger Nachrichten

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