Kohle gegen Kohlenstoff

18. Oktober 2021

Beim Green Deal verlässt sich die EU auf ein vielkritisiertes System: den Emissionshandel. Wie funktioniert der eigentlich?

Philip Pramer
Etwa zehn Jahre ist es her, da wurde der EU-Emissionshandel schon für tot erklärt. Der CO₂-Preis war im Keller, seit kurzem explodiert er geradezu. Nun soll der Emissionshandel eine der tragenden Säulen des Fit-for-55-Pakets werden, das die EU-Kommission im Sommer vorgeschlagen hat. Wir erklären, wie das System funktioniert – und was sich in Zukunft ändert.


Wie funktioniert der Emissionshandel?
Für jedes Jahr legt die EU eine Obergrenze an CO₂ fest, das emittiert werden darf. Für jede Tonne stellt die EU-Kommission ein Zertifikat aus, also eine Berechtigung, CO₂ in die Luft zu blasen. Diese Zertifikate werden von den Mitgliedsstaaten versteigert oder verschenkt und können, wenn sie nicht gebraucht werden, auch weiterverkauft werden.


Wer eine Fabrik besitzt und Treibhausgase emittieren will, braucht also eines der (idealerweise) knappen Zertifikate. Weil jedes Jahr immer weniger Zertifikate auf den Markt geworfen werden, soll der Preis für die Papiere steigen – so weit, bis es günstiger ist, die Tonne CO₂ gar nicht in die Atmosphäre zu blasen als ein Zertifikat zu kaufen.


Klingt kompliziert. Warum keine Steuer?
Was das bessere System ist, daran scheiden sich die Geister. Viele Ökonomen preisen den Emissionshandel als eines der effizientesten Instrumente, Treibhausgase zu reduzieren. Weil es einen großen Markt für mehrere Sektoren gibt, wird zuerst dort CO₂ eingespart, wo es am einfachsten geht – dem Klima ist es schließlich egal, wo Treibhausgase vermieden werden. Kritiker monieren, dass in bestimmten Situationen die Obergrenze nicht ausreichend wirkt. Werden von Unternehmen etwa weniger Zertifikate gebraucht, verbleiben mehr von ihnen auf dem Markt – das drückt den Preis. Mit einer CO₂-Steuer hätten Staaten mehr Spielraum, die Reduktionspfade zu stecken und auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren, sagen etwa viele Umwelt-NGOs.
„Eine EU-weite CO₂-Steuer einzuführen wäre sehr kompliziert“, sagt Angela Köppl vom Wirtschaftsforschungsinstitut dem STANDARD. Neue Steuern müssen von allen EU-Mitgliedsstaaten einstimmig beschlossen werden, was derzeit unrealistisch sei. „Der Emissionshandel dagegen ist ein etabliertes Instrument“, sagt Köppl. Im Wesentlichen gibt es ihn seit rund 16 Jahren, auch wenn er immer wieder überarbeitet wurde.


Funktioniert das?
Grundsätzlich ja. Dank der Obergrenze ist von Anfang an klar, wie viel CO₂ insgesamt ausgestoßen werden darf – für Verschmutzen ohne Zertifikat drohen hohe Strafen. Und tatsächlich waren die Emissionen, mit Ausnahme des Jahres 2008, immer unter dem „Cap“. Seit es den EU-Emissionshandel gibt, haben die erfassten Fabriken und Kraftwerke ihre Emissionen um 43 Prozent gesenkt – das ist nicht nichts.


Was funktioniert nicht so gut?
In den vergangenen Jahren wurde die Obergrenze jedes Jahr um rund 1,7 Prozent gesenkt, ab diesem Jahr sollen es 2,2 Prozent sein. Das ist vielen nicht genug, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Eines der größten Mankos ist aber wohl, dass nur rund 40 Prozent der Treibhausgasemissionen vom Handel erfasst sind. Derzeit müssen nur Stromerzeuger und bestimmte Industrien mit besonders hohem Energieverbrauch, etwa Aluminiumhütten oder Papierfabriken, Zertifikate kaufen. Auch Airlines sind in den Emissionshandel eingebunden – allerdings nur bei innereuropäischen Flügen.
Anfangs wurden fast alle Zertifikate von Staaten verschenkt, noch heute sind es über die Hälfte. Weil Zertifikate so großzügig verteilt wurden, verdienten viele Unternehmen sogar noch dazu, indem sie die überschüssigen Verschmutzungsrechte verkauften.
Die Finanzkrise verschärfte die Situation zusätzlich. Weil trotz kriselnder Wirtschaft immer mehr Zertifikate auf den Markt geworfen wurden, pendelte sich der Preis bei unter zehn Euro pro Tonne CO₂ ein. CO₂auszustoßen war damit fast gratis. Das war genau das Gegenteil von dem, was die EU erreichen wollte: nämlich Emissionen einen Preis zu geben. Nachdem ein Mechanismus eingeführt worden war, um Zertifikate vorläufig vom Markt zu nehmen, stieg der Preis wieder – aktuell liegt er bei rund 60 Euro, nahe am Höchstwert.


Was ändert sich jetzt?
Wie die EU-Kommission angekündigt hat, sollen die CO₂-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent sinken. Damit das funktionieren kann, schraubt sie auch am Emissionshandel. Statt um 2,2 Prozent soll die Obergrenze ab 2024 um 4,2 Prozent pro Jahr sinken, außerdem müssen auch Reedereien Zertifikate kaufen. Wenn Staaten Verschmutzungsrechte kostenlos verteilen, ist das noch stärker an Vorlagen gebunden, der Großteil soll langfristig versteigert werden, die Einnahmen in Klimaprojekte und in die Finanzierung von sozialen Härtefällen fließen.
Die wahrscheinlich größte Änderung: Ab 2026 müssen auch die Emissionen aus Verkehr und Gebäuden mit Zertifikaten gedeckt sein. Wer etwa fossile Treibstoffe in den Verkehr bringt, muss künftig Zertifikate kaufen, beim Heizen ist noch unklar, wie sich die Kosten auf Mieter und Vermieter verteilen. Das sei eine „viel komplexere Materie“ als beim bestehenden System, sagt Wifo-Ökonomin Köppl, weshalb es für die Verkehrs- und Gebäudeemissionen zunächst einen eigenen Emissionshandel geben wird. Langfristig würden die beiden Systeme aber wohl verschmolzen werden, glaubt Köppl.


Kann ich selbst Zertifikate kaufen?
Grundsätzlich ja – aber die Einstiegshürden sind hoch und mit Kosten verbunden. Eine kleine Organisation hat es trotzdem gemacht. Seit einigen Jahren sammelt der deutsche Verein Compensators Geld ein, um an der Börse CO₂-Zertifikate zu kaufen und dauerhaft stillzulegen.
Einerseits wolle man damit Menschen eine Alternative zu oft dubiosen Kompensationsprogrammen bieten, sagt Hendrik Schuldt von Compensators. „Ein bisschen war aber auch der Hack-the-System-Gedanke dabei.“ Denn eigentlich sieht das EU-System nicht vor, dass Zertifikate gelöscht werden, ohne das CO₂, das man damit eigentlich emittieren darf, in die Luft zu blasen.
Bisher haben die Compensators der Industrie schon 5700 Tonnen weggekauft. „Die Welt retten wir damit aber nicht“, gibt Schuldt zu.

Der Standard

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