Innsbrucker Ökologe warnt vor Ausbau der Wasserkraft in Tirol

2. November 2021, Innsbruck
Der Inn erreicht aufgrund starker Verbauung nur einen als "mäßig" beurteilten ökologischen Zustand - Schwaz, APA/JAKOB GRUBER

Das Land Tirol will bis 2050 energieautonom werden. Dabei soll die künftig benötigte Energie vor allem aus Wasserkraft und Sonnenenergie stammen. Der Anteil erneuerbarer Energieressourcen soll von derzeit 43 auf 100 Prozent steigen. Doch der „grüne Strom“ steht einer potenziell irreversiblen Zerstörung von Ökosystemen gegenüber, warnte der Ökologe Gabriel Singer im APA-Interview. Anstatt Autonomie anzupeilen, müsse gesamtheitlicher gedacht werden.

„Landschaftliche Schätze“ seien auf europäischer Ebene zu definieren und zu schützen. Besser als Autonomie anzustreben, sei es seiner Meinung nach „überregionaler zu denken“. So müsse man gemeinsam überlegen, wo Kraftwerksbauten sinnvoll wären und den geringsten Schaden anrichten, betonte der Universitätsprofessor: „Eingriffe in Fließgewässer – wie etwa Kraftwerksbauten – würden sich weit über den lokalen Standort hinaus auswirken, denn ein Bach oder ein Fluss kann nicht isoliert betrachtet werden, sondern als Teil eines großflächig verzweigten Netzwerks“.

Biodiversität leidet unter Eingriffen

Jedenfalls stellten solche Eingriffe einen weiteren Beitrag zum – in Flüssen besonders drastisch voranschreitenden – Verlust an Biodiversität. „Wir müssen den global beobachtbaren Biodiversitätsverlust als ein dem Klimawandel ebenbürtiges Problem verstehen, und beide Herausforderungen gleichzeitig annehmen“, appellierte Singer und ergänzte: „Einerseits weil wir in puncto Folgen beim Thema Biodiversitätsverlust noch viel mehr im Dunkeln tappen als beim Thema Klimawandel. Andererseits weil die Biodiversität auch unsere Versicherung gegenüber dem unausweichlichen Klimawandel ist“. Schon angesichts des derzeitigen hohen Ausbaugrades an Wasserkraft in Tirol sei man jedenfalls in einem „Stadium angelangt, bei dem ich einen weiteren Ausbau nicht reflexartig als ‚grün‘ bezeichnen kann“, kommentierte Singer. Der Ökologe erforscht die Komplexität von Fließgewässerökosystemen auf der ganzen Welt und ist seit Dezember 2019 Universitätsprofessor für Aquatische Biogeochemie am Institut für Ökologie der Universität Innsbruck.

Nur noch die wenigsten Flüsse und Bäche in Tirol hätten einen natürlichen Lauf, unveränderten Wasserhaushalt oder intakten Sedimenttransport, erläuterte der Wissenschafter. Auch wenn die mit 150 Kilometer längste, freifließende Strecke eines Flusses in Österreich mitten in Tirol liege, erreiche der Inn hier aufgrund starker Verbauung und Schwallbetrieb flussauf liegender Kraftwerke nur einen maximal als „mäßig“ beurteilten ökologischen Zustand. Österreichweit seien nur noch 15 Prozent der heimischen Flüsse wirklich ökologisch intakt und mehr als die Hälfte aller heimischen Fischarten gefährdet, beschrieb Singer den Status quo.

Der Bau und Betrieb von Wasserkraftwerken gehe einher mit einer Fragmentierung des von Flüssen gebildeten Gewässernetzes. Eine augenscheinliche Veränderung ergebe sich auch durch die Stauhaltung selbst, hier werde der Fluss zum „ökologisch völlig andres funktionierendem stehenden Wasserkörper“. So behalte ein Stausee mehr Wärme aus aufgenommener Sonnenenergie als die vorher existierende Landschaft. Und er sondere „aufgrund mikrobieller Aktivität“ anstelle von Kohlenstoffdioxid (CO2) nunmehr Methan ab. Methan ist etwa 25-mal klimaschädlicher als CO2 und der Methanausstoß in Stauhaltungen oder nach Turbinen könne „den vermeintlichen Klimavorteil des ‚grünen Stroms‘ zunichte machen“, führte der Ökologe aus. All dies müsste Teil eines umfassenden ‚Impact-Assessments‘ für neue Projekte oder Ausbau-Strategien sein“, plädierte Singer für ausgiebigere Bewertungen und Einbeziehung von Expertinnen und Experten.

Schwarz-Grün will Klein- und Regionalkraftwerke

Die schwarz-grüne Tiroler Landesregierung hatte zuletzt ihre Absicht, zusätzliche Klein- und Regionalkraftwerke zu bauen, um die Erreichung der Energie- und Klimaziele zu gewährleisten, bekräftigt. Bereits 2011 hatte die Landesregierung ein Ausbauziel von 2,8 Terawattstunden festgelegt. 39 Prozent sind schon umgesetzt, genehmigt oder mit dem Gemeinschaftskraftwerk Inn und dem Ausbau des Speichers Kühtai in Bau. Für weitere 50 Prozent des Ausbauziels gibt es konkrete Projekte – das größte davon mit dem Kraftwerk Kaunertal.

Wasserkraft sei nicht per se zu verurteilen, meinte Singer, doch Kraftwerksbauten seien individuell und „projektabhängig“ zu bewerten. „Viele kleine Kraftwerke richten mitunter mehr Schaden an als große“, betonte der Ökologe. Und ein großer Speicher wie im Kühtai beeinflusse nicht nur ein Tal, für diesen zweige man auch Wasser aus weiter entfernten Gebieten ab und führe sie über Gebirgsstollen zu. Derzeit unverbaute und ökologisch intakte Flüsse seien jedenfalls zu schützen. „Ötz und Isel sind die letzten intakten Gletscherflüsse in Tirol. Wenn wir anfangen dort ‚rumzubasteln‘ können wir einen hohen Schaden an wertvollem Naturerbe verursachen“, warnte Singer anhand zwei konkreter Beispiele.

Mit der Suche und Erschließung erneuerbarer Energiequellen müsse vor allem auch die Erkenntnis einhergehen, dass Wachstum endlich ist. „Wir schaffen es mit dem Ausbau erneuerbarer Energien nur mangelhaft, konventionelle Energiequellen wirklich zu ersetzen“, stellte Singer fest und fuhr fort: „Energie ist ein kostbares Gut, das wir nicht unendlich produzieren können“. Die Menschheit müsse lernen, dass es Grenzen gäbe – unter Wissenschaftern spreche man von der „Tragfähigkeit des Systems“. Diese Einsicht, und ein geplantes Einziehen eines Limits unter der maximalen Tragfähigkeit durch die Akzeptanz von Schutzgebieten, sei vor allem auch „eine kulturelle Leistung“, befand Singer: „Das Märchen vom immer anhaltenden Wirtschaftswachstum hat ausgedient“.

APA

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