Das große Entkoppeln

3. November 2021

Politiker, Wirtschaftstreibende, Klimaschützer, alle sprechen gern vom „grünen Wachstum“. Die Wirtschaft könne wie bisher weiterwachsen, ohne dass weiterhin Treibhausgase in die Luft geblasen werden und die Umwelt zerstört wird. Funktioniert das denn?

Die deutsche Klimaschutzaktivistin Tina Velo gilt als radikale Vertreterin ihrer Bewegung. Autokonzerne beispielsweise sollen komplett zusperren, fordert sie, das Leben autofrei ablaufen. Aber was soll mit all den Arbeitskräften geschehen, denen die Autoindustrie derzeit zu Jobs verhilft? Kein Problem, sagte Tina Velo im Jahr 2019. Die könne man umschulen. „Wir werden Busfahrerinnen und Busfahrer brauchen, Pflegerinnen und Pfleger, Erzieherinnen.“
Von der Klimaaktivistin Velo bis zu namhaften Unternehmensbossen, vom US-Präsidenten Joe Biden zum österreichischen Altkanzler Sebastian Kurz, von der UNO zur EU, von Konservativen zu Sozialdemokraten: Alle teilen sie eine fundamentale Annahme. Alle glauben, dass grünes Wachstum möglich ist. Um das Klima zu retten, muss man nicht etwa unser kapitalistisches Wirtschafts-und Gesellschaftssystem umkrempeln. Nein, eigentlich kann vieles weitergehen wie bisher. Arbeitskräfte werden umgeschult, alte Branchen von neuen abgelöst, aber im Grundsatz bleibt aufrecht: Weiterhin sorgt Wirtschaftswachstum für Jobs und Wohlstand. Nur eben klimafreundlich.

In der Klimadebatte wird meist über einzelne Maßnahmen diskutiert, ob CO2-Steuer oder Klimaschädlichkeit von Kurzstreckenflügen. Doch hinter all den Einzelschritten dräut die größere Frage nach dem Wachstum. Moderne Gesellschaften sind, um den Wohlstand zu erhalten, darauf angewiesen, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP)-die Summe aller Güter und Dienstleistungen pro Jahr und Land, die um Geld gehandelt werden-Jahr für Jahr wächst. Österreichs BIP etwa wird heuer laut Prognose des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo inflationsbereinigt um 4,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr wachsen.

Bisher jedoch gingen steigende BIPs mit mehr Umwelt-und Klimaschaden einher. Kann man also trotz Wachstum die Klimakatastrophe aufhalten? Oder anders gefragt: Sind nicht Klimaschutzbemühungen zum Scheitern verdammt, solange wir uns nicht vom Dogma des Wachstums lösen?

Nein, sagen die meisten Politiker, Experten, Klimaschützer. Die Klimawende muss kein Wachstum killen und keine Jobs vernichten; im Gegenteil können sogar Millionen von ihnen neu geschaffen werden. Massenhaft Erneuerbare Energien können bald dafür sorgen, dass E-Autos und E-Öffis emissionsfrei herumkurven. Bessere Recycling-Methoden und langlebigere Produkte stellen sicher, dass man der Erde nicht weiterhin Rohstoffe rauben muss, um die Konsumbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Und falls trotz alledem noch CO2 anfällt, wird es mittels komplexer Storage-und Geoengineering-Technologien am Entweichen in die Atmosphäre gehindert. Es brauche also für den Klimaschutz keine Debatte übers Wirtschaftswachstum, argumentieren jene, die es nicht infrage stellen. Sondern eben gesellschaftliche und technische Veränderungen samt entschlossener politischer Unterstützung. „Klimaschutz und nachhaltiges Wirtschaftswachstum sind vereinbar“, sagte im September 2020, knapp und klar, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Stimmt’s? Wer das wissen will, muss zunächst verstehen, wie BIP-Wachstum überhaupt entsteht und wozu wir es brauchen. Es gibt zwei Gründe, warum das BIP wächst; benannt nach zwei Größen der Volkswirtschaftslehre, dem Schotten Adam Smith und dem Österreicher Joseph Schumpeter. Da wäre zunächst das Smith’sche Wachstum. Es ergibt sich aus der Spezialisierung der Wirtschaft. Je spezialisierter sie ist, desto mehr wächst sie. Wenn zum Beispiel ein einziger Tischler einen Tisch von Anfang bis Ende fertigt, ist er wenig effizient und bringt in Summe nur wenige Tische hervor. Besser läuft es bei mehr Arbeitsteilung. Wenn ein Handwerker ausschließlich die Nägel für den Tisch produziert, ein zweiter den Leim mischt, ein dritter das Holz zuschneidet, gibt es viele Tische und ein hohes BIP.

Der Schumpeter’sche Grund für Wachstum hingegen hängt mit dem technischen Fortschritt zusammen. Unternehmen konkurrieren gegeneinander. Es siegt dasjenige, welches sein Produkt mit dem geringsten Aufwand an Material und Arbeitskraft fertigt. Der Konkurrenzkampf führt also dazu, dass-mit dem gleichen Aufwand an Mitteln-ständig mehr produziert werden kann als bisher. Woraus sich ebenfalls Wachstum ergibt.

Aber weshalb nun sind wir auf ein immerzu steigendes BIP angewiesen? Um das zu begreifen, muss man den Gedanken von Schumpeter weiterführen. Wenn konkurrenzbedingt mit gleichem Einsatz immer mehr Waren und Dienstleistungen erzeugt werden können, braucht es demnach immer weniger Arbeitskräfte, um die gleiche Menge an Produkten hervorzubringen. Würde die Produktion also stagnieren, gäbe es bald mehr Arbeitslose. Die wiederum können weniger Geld ausgeben, also schrumpft der Konsum. Dies führt dazu, dass die Produktion noch weiter zurückgeht. Stagnation führt also in einen Teufelskreis. Soll das System stabil bleiben, muss die Produktion wachsen. Und zwar zumindest so viel, wie die Wirtschaft produktiver wird. Arthur Melvin Okun, ein US-Ökonom der 1960er-Jahre, berechnete einst, dass das BIP jährlich ungefähr drei Prozent zunehmen muss, damit die Arbeitslosigkeit nicht steigt. Wir sind, wenn man so will, zum Weiterwachsen verdammt. Zugleich allerdings haben sich in den vergangenen Jahrzehnten ökologische Probleme aufgetan, die historisch beispiellos sind. Seit der Ära der Industrialisierung ist die globale Durchschnittstemperatur um 1,1 bis 1,3 Grad Celsius gestiegen. Ohne einschneidende Klimamaßnahmen könnten bis zum Jahr 2100 nochmals vier Grad dazukommen. Die Folge wären schwerste Verwerfungen: Bürgerkriege, Chaos, manche Experten warnen gar vor dem Aussterben der Menschheit. Will man die Erderhitzung eindämmen und zugleich das Wirtschaftswachstum beibehalten, dürfen die beiden nicht mehr Hand in Hand gehen. Es braucht eine Entkopplung. Eine sehr, sehr große Entkopplung.

Kann das funktionieren? Viele Ökonomen glauben, dass grünes Wachstum möglich ist-zumindest theoretisch und über lange Zeiträume. Aus volkswirtschaftlicher Sicht braucht es nämlich drei Faktoren, damit eine Ware oder Dienstleistung das Licht der Welt erblickt. Da wären menschliche Arbeitskraft, Maschinen und zuletzt alles, was die Natur zur Verfügung stellt: von Luft über Wasser bis zur Kapazität der Atmosphäre, Treibhausgase aufzunehmen. Nun ließe sich, argumentieren Ökonomen, die Komponente Natur durch die ersten beiden Produktionsfaktoren ersetzen. Heißt, ein höherer Einsatz von Mensch und Maschine könnte dafür sorgen, dass die Ressourcen der Natur nicht mehr in Anspruch genommen werden müssen. Wie gesagt, rein theoretisch.

In der Praxis zeigt sich ein komplexeres Bild. In vielen Ländern hat etwas stattgefunden, was Fachleute als „relative Entkopplung“ bezeichnen. Das bedeutet beispielsweise: Wenn sich das BIP eines Landes innerhalb einiger Jahrzehnte verzehnfacht hat, heißt das nicht automatisch, dass auch der Klimaund Umweltschaden zehnmal schlimmer geworden ist. Sondern vielleicht nur vier-oder fünfmal schlimmer. Die globale Wirtschaft läuft, relativ betrachtet, ein bisschen umwelt-und klimafreundlicher als früher. Dies gilt besonders für reiche Staaten, etwa in der EU. Dort sind die Emissionen seit dem Jahr 1990 sogar um rund ein Viertel zurückgegangen, während das BIP zugleich um 62 Prozent gewachsen ist. Österreichs BIP hat sich seit 1990 mehr als verdoppelt, während die jährlich ausgestoßenen Emissionen fast gleichgeblieben sind. Diese relativ positive Bilanz hängt auch damit zusammen, dass in reichen Volkswirtschaften Dienstleistungen im Vergleich zur Industrie eine immer wichtigere Rolle spielen, von Banken bis Tourismus. In aufstrebenden Industrienationen hingegen, etwa China, sieht es viel schlechter aus. Ebenso trist ist der Blick auf den gesamten Globus: Das Welt-BIP wuchs seit 1990 um rund 130 Prozent, die weltweiten Emissionen um knapp 45 Prozent.

Die relative Entkopplung reicht bei Weitem nicht, um den Kampf gegen die Klimakrise zu gewinnen. Vielmehr braucht es eine absolute Entkopplung. Wirtschaftswachstum und Klimaschaden dürfen überhaupt nicht mehr korrelieren. Zudem müsste diese absolute Entkopplung von Dauer sein. Und: den ganzen Globus umfassen. Und: schnell genug stattfinden, konkret innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte, um die Klimaziele noch zu erreichen.
Von all dem ist keine Spur zu sehen. Das zeigt allein die Erfahrung der vergangenen Jahre. Da fiel nämlich die Treibhausgasbilanz verlässlich dann erfreulich aus, wenn es der Wirtschaft und den Menschen richtig mies ging. Eines der besten Jahre für das Weltklima war 2009, als die Finanzkrise den globalen Handel lahmlegte. Und 2020, als sich die Menschheit wegen der Corona-Pandemie zu Hause verkroch.

Auf wissenschaftlicher Ebene hat ein Team der Wiener Universität für Bodenkultur (Boku) rund um Dominik Wiedenhofer und Helmut Haberl im Jahr 2020 untersucht, wie der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum, Emissionen und dem Verbrauch von Material und Energie aussieht. Stolze 835 internationale Studien wurden ausgewertet und zusammengefasst. Ergebnis: „In der Regel gibt es keine überzeugenden Beweise für eine absolute Entkopplung im erforderlichen Umfang, oder sie bleiben unschlüssig.“Die Verbindung zwischen Wachstum und Klimaschaden zu kappen, dies also wird mit Blick in die Vergangenheit schwierig. Wenn nicht unmöglich.
An dieser Stelle kommt die sogenannten „Degrowth“-Bewegung ins Spiel. Seit Langem fordert eine Schar internationaler Aktivisten eine Abkehr vom Wachstum. In der politischen Szene, etwa in der EU, ist die Bewegung zwar kaum präsent. Wohl aber gewinnt sie in wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Kreisen an Zulauf. Leitfiguren sind-um nur wenige zu nennen-der britische Ökonom Tim Jackson, der deutsche Nachhaltigkeitsforscher Niko Paech und der Wiener Politologe Ulrich Brand.

Grünes Wachstum funktioniert nicht, propagieren Degrowth-Anhänger. Um den Planeten zu retten, müssen wir ganz loskommen von ihm. Durchaus radikale Maßnahmen stehen im Raum. Paech fordert etwa den Rückbau von Flughäfen und Autobahnen, Jackson ein weitgehendes Verbot von Fernsehwerbung.

Aber wie konkret stellt sich die Degrowth-Bewegung die Abkehr vom Wachstum vor? Wie, vor allem, könnte man dem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Verarmung entkommen, der sich aus dem Rückgang des BIP ergeben würde? Wer nach überzeugenden Konzepten und Modellen sucht, wie eine Postwachstumsgesellschaft wirtschaftlich funktionieren könnte, wird kaum fündig. Einig sind sich viele Wachstumskritiker lediglich darin, dass der Staat dafür sorgen müsste, dass die Menschen nicht ins Elend rutschen-womit angesichts einbrechender BIP-Zahlen zu rechnen wäre. Die Umweltökonomin Sigrid Stagl von der Wiener Wirtschaftsuniversität (WU),die sich intensiv mit dem Thema befasst hat, spricht von der Notwendigkeit einer „universellen Grundversorgung“.Stagl zählt dazu Wasserversorgung, Gesundheitsdienstleistungen, Transport, Wohnen und Kinderbetreuung. Es handelt sich letztlich um eine Art Absicherung, um Menschen vor den Verwerfungen schwerer Wirtschaftskrisen zu schützen. Aber reicht mehr Sozialstaat schon als echte Alternative, als durchdachtes Konzept für eine Postwachstumsgesellschaft? Möglicherweise könnten es sich nur wenige reiche Staaten leisten, eine universelle Grundversorgung in ausreichender Qualität ihren Bürgern zur Verfügung stellen. Manche dieser Länder verfügen-etwa Österreich-auch heute schon über ausgebaute sozialstaatliche Systeme. Sind sie deshalb etwa klimafreundlicher unterwegs als andere? Keinesfalls.

Es wirkt daher, als würde diese Geschichte ziemlich trostlos enden. Nicht einmal die größten Wachstumskritiker können überzeugende Konzepte vorlegen, wie eine Postwachstumsökonomie ohne immerzu steigendes BIP aussehen soll. Und zugleich scheint echtes grünes Wachstum nicht zu funktionieren. Wir bleiben gefangen in der Wachstumsfalle. Und die Erderhitzung geht fast ungebremst weiter.

Bleibt zuletzt eine Hoffnung. Vielleicht wird es eine Innovation oder historische Weichenstellung geben, welche die Frage nach Wachstum oder Nichtwachstum überflüssig macht. Weil schlussendlich eine echte Entkopplung von Wachstum und Klimaschaden doch noch gelingt. Oder weil die Menschheit einen Weg findet, sich vom Wachstumszwang zu lösen.

Das klingt nach Wunschdenken, lässt sich aber historisch gut begründen. Schon mehrmals wähnte sich die Menschheit aufgrund eines Mangels an natürlichen Ressourcen in der Falle, wie es der Wiener Boku-Professor Reinhard Steurer in einem lesenswerten Papier zur Wachstumskontroverse ausführt. Und noch jedes Mal lag sie falsch.
Zum Beispiel vor rund 200 Jahren. Da prognostizierte der schottische Ökonom Thomas Malthus, dass jegliches Wirtschaftswachstum zum Scheitern verurteilt sei. Seine Argumente wirkten unumstößlich wie Naturgesetze. Wirtschaftswachstum führe zu Bevölkerungswachstum; mehr Menschen wiederum essen mehr Nahrungsmittel. Und die Früchte des Bodens seien nun einmal begrenzt. Doch Malthus irrte sich. Das zeigte sich, als die Landwirtschaft industrialisiert wurde und dank neuer Technologien die Erträge hochschossen.

Oder Mitte des 19. Jahrhunderts. Europas Industrialisierung war im vollen Gange, überall rauchten Fabrikschlote. Doch dem glänzenden neuen Zeitalter stehe der Kollaps bevor, warnten deutsche und britische Naturwissenschafter. Die Kohlevorräte, die dem Boom zugrunde lagen, gingen nämlich zur Neige. Die Forscher ahnten nicht, dass Erdöl bald darauf Kohle als wichtigsten Energieträger ablösen würde.

Steurer rät deshalb zum „vorsichtigen Umgang mit unsicheren Extrapolationen“,also Vorhersagen, die Trends aus der Vergangenheit in die Zukunft fortschreiben. Denn „große geschichtliche Wendungen konnten meist nicht vorhergesehen werden.“ Vielleicht kommt alles ganz anders, als wir denken. Es wäre nicht das erste Mal. Bis dahin, so der Boku-Professor, wäre „es wünschenswert, wenn sich auch die Wachstumskontroverse mehr um die Qualität als um das quantitative Ausmaß von Wachstum drehen würde“.

Heißt, in jedem Fall brauchen wir zunächst einmal entschlossenen Klimaschutz. Ganz egal, ob das BIP wächst oder nicht.

Weiterlesen?

Club Of Rome: Die Grenzen des Wachstums, 1972 Der Klassiker der Wachstumskritik schlechthin. Unlimitiertes Wirtschaften auf einem limitierten Planeten, das geht sich nicht aus, argumentierten die Autoren-und prägten damit Generationen an Öko-Aktivisten und Wachstumskritiker: https://tinyurl.com/profillimits
Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum, 2017 Der Bestseller ist erstmals 2009 erschienen und wurde seither vielfach neu aufgelegt. Er fasst die Kritik am Wirtschaftswachstum zusammen und gilt als Standardwerk der jüngeren Wachstumskritik.

Reinhard Steurer: Die Wachstumskontroverse als Endlosschleife: Themen und Paradigmen im Rückblick, 2010 Auf wenigen Seiten stellt der Boku-Professor konzise und verständlich dar, welche Fraktionen es in der Wachstumsdebatte gibt, welche Positionen und Argumente sie vertreten und warum sich die Diskussion seit Jahrzehnten im Kreis dreht: tinyurl.com/profilsteurer
Weiterhören?

In „Tauwetter“,dem profil-Podcast zur Klimakrise, befassen sich die profil-Redakteure Christina Hiptmayr und Joseph Gepp jeden zweiten Freitag mit einem Aspekt der Klimakrise. Zu finden auf allen gängigen Podcast-Plattformen unter dem Suchwort „Tauwetter“.

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