Ringen um das Mini-AKW

16. November 2021

Kleine Kernreaktoren sorgen für Begeisterung in Frankreich und Entsetzen in Deutschland. Vorteile sind vor allem Versorgungssicherheit und geringe Kosten.

Zwei Stunden lang sprach Emmanuel Macron vor wenigen Wochen zu Unternehmern und Studenten über seine Vision Frankreich 2030. Digital, dynamisch und grün soll das Land werden, so der französische Präsident. Einer der Schwerpunkte von Macron: Atomkraft. Dass Frankreich über viele Atomkraftwerke verfügt, bezeichnete er als „Glücksfall“.


Bereits jetzt ist die CO2 – Bilanz des Landes deutlich besser als die der meisten anderen Nachbarländer. Rund 70 Prozent des Stroms stammen aus Kernenergie – allerdings sind die Reaktoren veraltet. Sie sollen nun mithilfe einer „Zukunftstechnologie“, so Macron, zu neuartigen Mini-Atomkraftwerken, den sogenannten Small Modular Reactors (SMR), ausgebaut werden.


Frankreich begann bereits vor etwa zehn Jahren mit der Entwicklung von Minireaktoren. Unternehmen und Forscher versprechen sich von ihnen vor allem mehr Sicherheit, höhere Energieeffizienz und weniger radioaktiven Abfall.
Die sogenannte vierte Generation von Kernreaktoren existiert bislang allerdings nur auf dem Reißbrett. Besonders in Deutschland sind die Mini-Atomkraftwerke umstritten. Dort sorgen sich Politiker und Experten um den Atommüll, vor Terrorismus – und warnen vor hohen Kosten.


„Die Reaktoren, die Frankreichs Präsident Macron protegiert, sind im Prinzip alter Wein in neuen Schläuchen“, so Wolfram König, Präsident des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung. „Alle unsere Studien dazu sagen: Auch mit Mini-AKWs geht es nicht in eine bessere Zukunft.“


Könnten Mini-Atomkraftwerke eine nachhaltige, sichere Technologie darstellen? Die Frage ist auch für die deutsche Wirtschaft von Bedeutung. Denn vor wenigen Wochen setzten sich zehn EU-Mitgliedstaaten unter der Führung von Frankreich für die Kernenergie ein. Die EU-Kommission soll Atomkraft als nachhaltig einstufen – schließlich emittiert sie kein CO2 und hilft so auch beim Kampf gegen den Klimawandel.


Eine Milliarde für die Nukleartechnologie Deutschland leistet dagegen Widerstand. Abgesehen von wichtigen Fragen wie etwa der der Endlagerung oder Sicherheit schwingt eine weitere Sorge mit: Die französische Wirtschaft könnte in der Zukunft einen wichtigen Wettbewerbsvorteil erhalten. Auf einen Schlag könnte sich die französische Stahl- oder Baubranche als grün deklarieren – und den deutschen Unternehmen damit Konkurrenz machen. Als Macron im Oktober seinen nationalen Investitionsplan „France 2030“ verkündete, versprach er dabei auch eine Milliarde Euro für Innovationen in der Nukleartechnologie. Weitere 470 Millionen Euro erhält die Atombranche im Rahmen der staatlichen Wirtschaftsprogramme in der Coronapandemie.


Ein beträchtlicher Anteil der Mittel dürfte an das Unternehmen Technicatome fließen. Mit etwa 1800 Beschäftigten und einem Jahresumsatz zwischen 400 und 500 Millionen Euro baut die Firma Antriebe für die Atom-U-Boote des französischen Militärs. Bislang macht Technicatome, das zu etwas mehr als der Hälfte dem französischen Staat gehört, 80 Prozent seines Geschäfts im Rüstungssektor.


Die französische Nuklearindustrie wird dominiert von Schwergewichten wie dem staatlichen Stromerzeuger EDF und Framatome, der Kraftwerksparte des ehemaligen Areva-Konzerns. Ein kleiner Akteur wie Technicatome sei da eine „Rarität“, sagte Firmenchef Loic Rocard kürzlich der Zeitung „Les Échos“. Nun sind die Ingenieure des Unternehmens stärker denn je bei der Forschung an zivilen Minireaktoren gefragt.

Die Initiative läuft unter dem Titel „Nuward“, ein Verschnitt der englischen Wörter „Nuclear Forward“, was heißen soll: vorwärts mit der Atomkraft. Ebenfalls an dem Konsortium beteiligt sind EDF, das Rüstungsunternehmen Naval Group sowie das staatliche Forschungszentrum CEA („Kommissariat für Atomenergie und alternative Energien“). Kernkraft und Erneuerbare wären damit unter einem Dach.


Die geplante „Nuward“-Anlage besteht aus zwei Druckwasserreaktoren mit einer Leistung von insgesamt 340 Megawatt, womit nach Angaben von EDF eine Million Menschen mit Strom versorgt werden könnten. Bei Reaktoren in konventionellen Kernkraftwerken liegt die Leistungskraft meist über 1000 Megawatt. „Ein SMR ist eigentlich nur ein Atomkraftwerk in kleinerem Maßstab und mit vereinfachter Bauweise“, sagt Jacques Chénais, Direktor der CEA.
Ende 2022 will das „Nuward“-Konsortium die Pläne bei der französischen Nuklearsicherheitsbehörde ASN einreichen. 2030 soll dann das erste Mini-AKW auf französischem Boden gebaut werden. „Bis 2050 müssten mehr als 3000 Kohlekraftwerke ersetzt werden – allein in den Staaten, die sich auf Dauer für die zivile Nutzung der Atomenergie entschieden haben“, so EDF.


Es gibt viele Konzepte für SMR-Reaktoren: Ob auf Leichtwasser-Basis, also dem Prinzip, mit dem auch herkömmliche Atomkraftwerke funktionieren, dem Einsatz von Salzschmelzen, Flüssigmetallen oder mit Gas als Kühlmittel sowie Brennstoff. Laut der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit gibt es weit über 100 verschiedene Arten von SMR-Reaktoren, allerdings wird nur an der Hälfte intensiv weiter geforscht.


Russland hat 2019 vor der sibirischen Küste eine Art schwimmendes Kraftwerk mit einem SMR in Betrieb genommen. China baut seit diesem Sommer seinen Minireaktor ACP100. Technologisch am interessantesten sind jedoch die Projekte in den USA. Dort unterstützten Bill Gates und Warren Buffett das Start-up Terrapower, das in Wyoming mit GE Hitachi einen mit Natrium gekühlten SMR plant.


Auch billigten die US-Behörden im September das SMR-Design von Nuscale Power. Das amerikanische Unternehmen baut auch an dem ersten Mini-Atomkraftwerk in Europa. Dieses soll bis 2028 in Rumänien entstehen, wie auf dem Klimagipfel in Glasgow angekündigt wurde. Auch in Bulgarien prüft das Unternehmen zusammen mit dem US-Anlagenbauer Fluor den Bau eines Mini-Atomkraftwerks.


„Bislang existieren diese Technologien bis auf eine Handvoll kleiner Pilotprojekte nur auf dem Papier“, sagt Christoph Pistner, Experte für Nuklearsicherheit vom Öko-Institut in Darmstadt. „Von kommerziell konkurrenzfähigen Anlagen, die wirtschaftliche Machbarkeit demonstrieren, sind wir weit entfernt.“ Und das, obwohl diese Technologien zum Teil seit über 20 Jahren auch mit größeren staatlichen Fördermitteln vorangetrieben würden.


„SMR-Reaktoren stehen vor bis jetzt noch ungelösten Problemen“, sagt Pistner. „Oft sind es Materialfragen. Salzschmelzen oder flüssiges Blei sind hochkorrosive Materialien, die die Kühlkreise angreifen können. Kühlmittel wie Natrium können bei Leckagen zu Bränden führen.“ Bei gasgekühlten, grafitmoderierten Reaktoren dürfe es nicht zu Luft- oder Wassereinbrüchen kommen. Radioaktive Lecks könnten keineswegs ausgeschlossen werden.
Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung hat eine Studie beim Öko-Institut, bei der TU Berlin und dem Physikerbüro Bremen in Auftrag gegeben. Danach können die Minimeiler zwar „potenziell sicherheitstechnische Vorteile gegenüber großen Atomkraftwerken vorweisen“. Doch müssten „viele Tausend bis Zehntausende“ Reaktoren gebaut werden, was Fragen zur Sicherheit, zum Transport, zum Rückbau sowie zur End- und Zwischenlagerung aufwerfen würde. Außerdem steige mit der Zahl der Reaktoren die Gefahr der Nutzung für militärische oder terroristische Zwecke.


Für die Franzosen geht es bei der nuklearen Kompetenz immer auch um die Souveränität ihres Landes. Nach dem Krieg garantierten in ihren Augen die Atomwaffen der „Force de Frappe“ die Verteidigungsfähigkeit. Mit dem Ausbau der Atomkraftwerke machte sich das Land nach den Ölschocks der Siebzigerjahre unabhängiger in der Energieversorgung.
Aktuell bezieht Frankreich mehr als 70 Prozent seines Stroms aus Atomenergie, der Energiekonzern EDF betreibt 56 Reaktoren an 18 Standorten. Rund 200.000 Menschen arbeiten in der Atombranche. Zu Beginn seiner Amtszeit wollte Macron den Atomstromanteil noch auf 50 Prozent zurückfahren und bis 2025 eine Reihe von Kraftwerken schließen. Die Frist wurde zwischenzeitlich auf 2035 verschoben. Nun setzt der Präsident neben einem Ausbau der erneuerbaren Energien wieder offensiv auf die Atomenergie.


Die Bevölkerung steht laut einer Umfrage im Auftrag von „Les Echos“ hinter Macrons Kurs. Demnach sprachen sich rund 52 Prozent dafür aus, sowohl auf Strom- und Windenergie als auch auf die Kernkraft zu setzen. Während sich zehn Prozent ausschließlich Kernenergie wünschten, sprachen sich 37 Prozent für einen Atomausstieg aus.
Ob eine Serienproduktion gelingen kann, hängt letztendlich von der Wirtschaftlichkeit der Minireaktoren ab. EDF rechnet beim „Nuward“-Programm für eine Anlage mit einem finanziellen Rahmen von einer Milliarde Euro, für konventionelle Atomzentralen liegen die Kosten oft beim Zehnfachen. CEA-Experte Chénais ist optimistisch: Die Bauteile der SMR könnten standardisiert in Fabriken gefertigt und zur Endmontage an den Standort des Kraftwerks gebracht werden. „Das erlaubt es, die Bauzeit vor Ort und die damit verbundenen Risiken zu begrenzen. “ Gefahr für Investitionen in Erneuerbare Pistner vom Öko-Institut erwidert, dass SMR auf die Leistung bezogen zunächst teurer als die großen Atomkraftwerke seien. „Es bräuchte Hunderte bis Tausende in Serienproduktion, damit sich das vielleicht ändert“, sagt er. „Die Frage ist, wie stark muss ich das subventionieren, und was nutzt es am Ende? Wenn diese Technologie in vielleicht 20 Jahren tatsächlich verfügbar wäre, ist es für die Energiewende zu spät.“


Eines ist sicher: Die von Macron verkündete Investition von einer Milliarde Euro erscheint wenig. Das könnte sich mit dem grünen Gütesiegel der EU ändern. Denn dieses würde privates Kapital anziehen, viele globale Investoren wollen nachhaltig Geld anlegen. Eine Horrorvorstellung für Kritiker. „Es besteht die reale Gefahr, dass sich der Markt entsprechend ausrichtet“, sagt König. „Damit würden benötigte Innovationen und Investitionen in erneuerbare Energien möglicherweise nicht in gleichem Maße erfolgen.“


ZITATE FAKTEN MEINUNGEN
Wenn diese Technologie in vielleicht 20 Jahren verfügbar wäre, ist es für die Energiewende zu spät. Christoph Pistner Öko-Institut Ein SMR ist eigentlich nur ein Atomkraftwerk in kleinerem Maßstab und mit vereinfachter Bauweise. Jacques Chénais Direktor CEA Insight Innovation Innovation ist Wirtschaft der Zukunft. Daher lohnt sich ein genauer Blick auf neue Produkte, Technologien und Verfahren. In der Serie „Insight Innovation“ will das Handelsblatt im Detail analysieren, wie Innovationen in Unternehmen funktionieren, welche Technologietrends auf uns zukommen und wie diese Branchen, Geschäftsmodelle und ganze Volkswirtschaften verändern.

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