Bei der Gasversorgung ist die EU sehr verwundbar, sagt der Politologe Gerhard Mangott. Aber auch Moskau und Gazprom sind abhängig von ihrem bisher besten Kunden Europa.
Die Presse: Wie erpressbar ist die EU aufgrund ihrer Abhängigkeit vom großen Gaslieferanten Russland?
Gerhard Mangott: Mehr als 40 Prozent der europäischen Gasimporte stammen aus Russland. Dahinter folgen mit Abstand Norwegen und Algerien. Ein Problem begleitet Europa seit vielen Jahren: Die Produktion von Erdgas in der EU geht zurück, man ist also auf Importe angewiesen. Und da wird es ohne Russland nicht gehen. Europas Strategie, die Gaslieferanten zu diversifizieren, ist bisher nicht aufgegangen. Es gab große Hoffnungen, dass viel Gas aus Aserbaidschan und Turkmenistan in die EU kommen könnte. Aserbaidschan kann derzeit aber nur einen kleinen Bruchteil der 500 Milliarden Kubikmeter Gas liefern, die Europa braucht. Und Turkmenistan hat sich entschieden, sein Gas nicht nach Europa, sondern nach China zu verkaufen.
Welche Rolle kann Flüssiggas spielen? Immerhin überlegen die USA, im Notfall mit dem Schiff Gas nach Europa zu schicken.
Europa hat es geschafft, mehr Flüssiggas aus Ländern wie Katar, Nigeria und Angola zu lukrieren. Die USA haben schon lang versprochen, den Europäern bis zu 40 Milliarden Kubikmeter jährlich zu liefern. Angekommen sind davon bisher nur Kleinstmengen, weil die privaten US-Gasfirmen ihre Ware lieber teurer in Asien verkaufen. US-Flüssiggas kann eine gewisse Erleichterung bringen, aber einen potenziellen Ausfall russischer Lieferungen nicht ausgleichen. Europa ist sehr verwundbar, wenn Russland die Lieferungen kürzt. Aber auch Moskau ist abhängig. Fast die gesamte Pipeline-Infrastruktur Russlands führt nach Europa. Russland und Gazprom brauchen diesen Markt.
In den vergangenen Monaten hat man davon nicht viel gemerkt. Der Kreml musste sich sogar den Vorwurf gefallen lassen, Gas bewusst knapp zu halten, um die Preise weiter zu treiben und die Verhandlungsposition der Europäer zu schwächen.
Die Gasknappheit in Europa hat auch andere Ursachen, wie etwa einen kalten Winter im Vorjahr und starkes Wirtschaftswachstum in China und Südostasien. Russland erfüllt alle Verpflichtungen aus den Langfristverträgen, liefert aber nicht zusätzlich über die Spotmärkte, was den Gaspreis dämpfen könnte. Da sieht man, dass Gazprom auch nach politischen Vorgaben agiert. Russland will Europa spüren lassen, dass es nicht politische Spannungen mit Moskau haben und gleichzeitig erwarten kann, dass Russland in der Not parat steht. Es ist ein politisches Signal: Europa muss sich entscheiden, ob es Partner von Russland sein will oder nicht.
Moskaus Reaktion ist ein Bruch mit der Tradition. Selbst vor dem Fall der Mauer standen Gaslieferungen in den Westen nie infrage. Was hat sich da geändert?
Während des Kalten Krieges gab es keine Lieferprobleme, die haben erst mit den Gaskrisen 2006 und 2009 begonnen. Grund dafür war die zunehmende Entfremdung zwischen der Ukraine, die sich dem Westen zugewandt hat, und Russland. Dieser Nachbarschaftsstreit hat zur Politisierung des Gasgeschäfts auf beiden Seiten geführt. Auch die Schwierigkeiten, die die Kommission bei der Zertifizierung von Nord Stream 2 macht, sind ein Versuch, ein Druckmittel aufzubauen, um in der Ukraine-Krise russisches Wohlverhalten herbeizuführen. Beide errichten im Gashandel Hürden, um geopolitische Ziele zu erreichen. Das ist eine neue Qualität.
Was das für Gaskunden in Europa bedeuten kann, erleben wir heuer schmerzlich: Der Preis hat sich binnen Jahresfrist vervielfacht. Wann wird Entspannung kommen?
Frühestens im Frühjahr. Ein kalter Februar kann aber auch durchaus noch eine Verschärfung mit sich bringen. Die Speicherstände in der EU sind sehr niedrig, die Spitzenlast kann unter Umständen nicht gedeckt werden. Das hätte erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen.
Welche Schuld hat Europa an der Misere?
Ich sehe es nicht als Schuld, aber die Gasmarktliberalisierung der EU hat die Situation sicher verschlechtert. Etliche Schritte waren explizit gegen die Interessen Gazproms gerichtet. Aber für die militärische Eskalation und die Sanktionen der EU ist nur Russland verantwortlich.
Wie lang hält Moskau diesen harten Kurs gegen die EU durch?
Russland kann das nicht ewig machen. Ein Drittel des russischen Staatshaushaltes kommt von den Gasexporten. Will Moskau den Konflikt länger vorantreiben, droht dem Land eine wirtschaftliche Katastrophe.
Geht Wladimir Putins Kalkül auf?
Nein. Ich halte die Strategie Putins gegenüber der Ukraine und dem Westen für einen schweren außenpolitischen Fehler. Die Kosten der Strategie werden für Russland größer sein als der Nutzen. Moskau kann in der Ukraine zwar seine militärische Macht demonstrieren. Dafür müsste es mit harten Finanzsanktionen leben, und die Nato würde ihre Truppenpräsenz in osteuropäischen Nato-Staaten ausbauen. Aus der Sicht Moskaus würde die Bedrohung nur größer.
Bild:Technologiefoto erstellt von jcomp
Von Matthias Auer
Die Presse