Putins lauteste Gegner in Europa

6. April 2022, Vilnius

Der Baltenstaat geht im Konflikt mit dem 261 Mal größeren Russland voran. Als erstes EU-Land hat er sich jetzt von russischem Gas losgesagt — und den Botschafter aus dem Land geworfen.

Im Herzen von Vilnius, der Hauptstadt Litauens, gibt es seit Kurzem eine „Straße der ukrainischen Helden“. Sie führt zur russischen Botschaft: eine symbolische Geste und aus Moskauer Sicht gewiss ein Affront. Aber auch nicht viel mehr. In diesen Tagen aber wurde die Botschaft Schauplatz eines größeren diplomatischen Eklats: Der Hausherr muss gehen. Litauen wirft den russischen Botschafter aus dem Land und holt seinen Vertreter aus Moskau heim. Es stuft also die diplomatischen Beziehungen zu Russland herab — eine Antwort auf „russische Kriegsverbrechen“, auf die Bilder mutmaßlicher Massaker nahe Kiew.

Auch in Rom, Berlin oder Paris wurden russische Diplomaten des Landes verwiesen. Aber niemand sonst in der EU hat den Botschafter vor die Tür gesetzt. Litauen geht voran. Das kennt man. Das hat Methode. Im Konflikt mit Russland schlüpft der kleine Baltenstaat seit Jahren in die Rolle des Vorreiters und Einpeitschers. Meistens ist es so: Keiner ergreift härtere Maßnahmen und keiner verlangt weitreichendere Sanktionen als Litauen (zuweilen im Verbund mit den anderen baltischen Staaten). Und keiner trägt rhetorisch dicker auf. Erst neulich warnte Chefdiplomat Gabrielius Landsbergis, wer Moskau noch Gas abkaufe, finanziere „russische Kriegsverbrechen“.

Die historische Angst

Litauen fühlt sich von Russland notorisch bedroht. Wenn Wladimir Putin in der Ukraine nicht gestoppt werde, dann werde er andernorts weiter Krieg treiben, vielleicht auch in Litauen. So sehen sie das. Zugleich sind sie in Vilnius der festen Überzeugung, dass sanfte Diplomatie hier nichts nutzt. Russland verstehe nur Signale der Stärke,l der Abschreckung: Die Botschaft wiederholen sie seit Jahren. Der Ukraine-Krieg hat sie nur bestärkt in ihrer Sicht auf den Nachbarn, der 51 Mal so viele Einwohner zählt und 261 Mal so groß ist.

Schutzlos ist Litauen deshalb nicht. Es hat eine Mitgliedskarte für das mächtigsten Bündnis der Welt, für die Nato. Und es sucht stets die Nähe zu den USA. Beides gilt ihm als Lebensversicherung.
Aber die eigene Geschichte steckt dem Land in den Knochen. 1990 hat sich Litauen als erste Sowjetrepublik von Moskau losgesagt. Der Konflikt um die Unabhängigkeit gipfelte 1991 in der Blutnacht von Vilnius. Sowjetische Panzer rollten. Das ist 31 Jahre her. Und es prägt bis heute. Im Ringen mit Litauen hatte der Kreml übrigens 1990 auch Gas als Waffe eingesetzt und kurzzeitig einen Energie- und Rohstoffboykott verhängt.

Als Russland nach der ukrainischen Krim-Halbinsel griff, waren sie in Litauen auf der Hut. Sie hingen damals energiepolitisch am Tropf Moskaus. Sie waren abhängig von russischem Gas. Zu 100 Prozent. Und sie zogen ihre Lehren. Während sie in Deutschland die Abhängigkeit von russischem Gas zementierten — Stichwort Nord Stream II —, stellte sich Litauen breiter auf. Teilweise hatten es schon davor damit begonnen.

Die große Gaswende

Am Wochenende vermeldete es dann die vollendete Zeitenwende. Der Entzug vom „toxischen“ russischen Gas sei geglückt, „ab sofort“, erklärte Regierungschefin Ingrida Šimonytė, werde Litauen „keinen einzigen Kubikmeter“ russischen Gases mehr verbrauchen. Als erstes europäisches Land hat sich Litauen vollständig aus der Abhängigkeit befreit. „Wenn wir es schaffen, dann kann es der Rest Europas auch“, lautete die Botschaft von Präsident Gitanas Nausėda.

Wie Litauen die Wende gelungen ist? Die Antwort schwimmt im Ostseehafen von Klaipeda. Zu Wasser liegt dort ein kolossales Flüssiggasterminal. Dreimal pro Monat wird es von Tankern mit Flüssiggas beliefert, das reicht, um den Bedarf des 2,8-Millionen-Einwohner-Landes zu decken, sagen sie. Die US-Wirtschaft freut sich. Falls das Flüssiggas nicht reicht, sei man über Pipelines mit Lettland verbunden und ab Mai mit Polen.

Zwar fließt weiterhin russisches Gas in Litauen. Aber es ist nur Transitland. Das Gas wird von Belarus in die russische Exklave Kaliningrad gepumpt. Die Geografie macht Litauen zurzeit noch größere Sorgen, weil seit Februar offenbar dauerhaft russische Soldaten in Belarus stationiert sind. Ein Tabubruch. Im Angriffsfall könnte Litauen rasch in die Zange genommen werden. Theoretisch in den düstersten Planspielen. Die in der Ukraine offengelegten Schwächen der russischen Armee dürften Putin aber nicht ermutigt haben, sich auch mit einem Nato-Land anzulegen. Und in Vilnius setzen sie alles daran, dass das so bleibt.

Die Presse

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