Analyse. Vor allem die USA und Afrika sollen der EU helfen, den Abschied von Russland durchzuziehen. Die Neuorientierung lässt auch manch totgesagtes Projekt wieder aufleben.
Erst Öl, dann Gas. Geht es nach dem Willen einiger EU-Staaten, ist das geplante Embargo gegen russisches Erdöl nur der erste Schritt. Auch bei Erdgas soll sich die Union rasch vom russischen Hauptlieferanten loseisen. Noch heuer will Brüssel die Importe aus Russland von zuletzt 168 Milliarden Kubikmetern im Jahr um zwei Drittel verringern, bis 2027 den Ausstieg schaffen. Wie das genau funktionieren soll, blieb bisher unklar. Nun gibt es erste Einblicke, wo die EU künftig ihr Erdgas einkaufen will.
Im Kern aller Überlegungen steht Flüssiggas (LNG), das flexibel per Schiff angeliefert werden kann. Da die momentane Nummer eins, Katar, derzeit keine zusätzlichen Reserven für die EU hat, soll der Löwenanteil der neuen LNG-Importe aus den USA kommen. Washington will bekanntlich mittelfristig um 50 Milliarden Kubikmeter im Jahr mehr liefern. Ansonsten setzt der Kontinent vor allem auf Afrika, wie aus dem geleakten Entwurf der Diversifizierungsstrategie hervorgeht. „Die Presse“ hat sich angesehen, wo es realistische Potenziale gibt und welche Hürden lauern.
Große Hoffnungen ruhen auf den westafrikanischen Ländern Nigeria, Angola und Senegal, zitiert Bloomberg aus dem EU-Papier. Nigeria, einer der zehn gasreichsten Staaten weltweit, liefert schon heute LNG nach Frankreich, Spanien und Portugal. Sogar ein Pipeline-Anschluss an das europäische Gasnetz ist geplant, die Sicherheit der Infrastruktur haben Experten aber immer wieder als problematisch bezeichnet. Viel Erdgas gibt es auch in Libyen, die politisch instabile Lage verhindert aber, dass das Land zu einer echten Stütze werden könnte.
Ägypten als neuer Großlieferant?
Anders sieht das in Israel und in Ägypten aus. Brüssel will beide Länder künftig am Energiesektor enger an Europa binden. Gerade Ägypten hat im Vorjahr einen großen Sprung nach vorn gemacht und konnte den größten Anstieg an LNG-Exporten verzeichnen, heißt es in einem Bericht der Organisation der arabischen ölexportierenden Länder (Oapec). Doch die ägyptischen Mengen gehen mehrheitlich nach China. Der hohe europäische Gaspreis und geplante Abkommen mit der EU sollten aber helfen, diese Mengen nach Europa umzuleiten.
Damit Europa mit all dem Flüssiggas auch etwas anfangen kann, muss der Kontinent seine Infrastruktur entsprechend vorbereiten. So gibt es zwar genug LNG-Terminals, an denen das Flüssiggas wieder regasifiziert werden kann. Doch die Terminals stehen vor allem auf der iberischen Halbinsel. Von dort fehlen ausreichende Leitungen, um das Gas nach Mittel- und Osteuropa zu bringen. Deutschland plant im Eiltempo schwimmende Terminals, um diesen Teil Europas besser zu versorgen, auch die Flussrichtung manch bestehender Pipeline könnte geändert werden. Aber all das braucht Zeit.
Neue Leitung durch das Mittelmeer?
Darum kommt die EU nicht umhin, auch mehr Pipeline-Gas einzukaufen. Über den Südlichen Gaskorridor, der Erdgas aus Aserbaidschan bringt, sollen die Mengen auf 20 Milliarden Kubikmeter im Jahr verdoppelt werden. Norwegen hat seine Lieferungen bereits erhöht, Algerien würde gern, hat derzeit aber zu wenig Gas.
Die intensive Suche nach neuen Gasquellen haucht auch so manchen totgesagten Projekten neues Leben ein. In Rumänien warten Gaskonzerne, darunter die OMV, seit 15 Jahren darauf, das 200 Mrd. Kubikmeter große Neptun-Gasfeld im Schwarzen Meer auszubeuten. Doch selbst wenn es nun rasch grünes Licht gibt, fließt frühestens 2027 erstes Gas.
Nigeria und Algerien haben kürzlich die Planungen für eine mehr als 4000 Kilometer lange Trans-Sahara-Gaspipeline (Nigal) wieder aufgenommen. Sie soll in Algerien an das europäische Netz andocken. Bisher galt die Lage in den Ländern als zu unsicher, die Umsetzung daher als zu riskant.
Neue Hoffnung schöpfen auch Griechenland, Israel und Zypern. Die drei Mittelmeerländer wollen den Bau einer 1900 Kilometer langen Pipeline durch das Mittelmeer erneut prüfen. Ursprünglich war die East-Med-Pipeline, die Gas von Israel über Zypern nach Griechenland leiten soll, als zu teuer und unvereinbar mit den EU-Klimazielen verworfen worden.
von Matthias Auer
Die Presse