„Wir stehen vor einer großenWelle“

31. August 2022

Ex-Verbund-Chef Wolfgang Anzengruber sagt, mit einer Preisbremse für Strom seien enorm hohe Kosten für die Steuerzahler verbunden.

Die Nachrichten über die finanzielle Schieflage der Wien Energie haben auch den langjährigen Vorstandsvorsitzenden der Verbund AG überrascht. Er hat für vieles eine Erklärung. Aber nicht für alles.

Haben Sie eine Erklärung für die jüngsten Vorgänge bei der Wien Energie? Wolfgang Anzengruber: Es gibt zwei Arten, Strom zu handeln, an der Börse oder bilateral. Die Börse will sicherstellen, dass ein Geschäft auch stattfindet, wenn der Preis steigt. Damit der Lieferant nicht ausbüxt und den Strom später teurer verkauft, muss er die Differenz oder einen Anteil davon bei einem Treuhänder hinterlegen. Wird der Strom in einem Jahr wie vereinbart geliefert, geht das Geld zurück. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Auch der Verbund hat das laufend gemacht. Das ist nichts Bösartiges.
Klingt alles nach Routine. Ist die Wien Energie ein größeres Risiko eingegangen als andere? Ich kann es nur mit Verbund vergleichen. Wir haben nur die Marge zwischen Kauf und Verkauf in der Bilanz abgebildet, sonst wäre sie aufgebläht worden. Immer, wenn der Preis steigt, hat der Lieferant die Notwendigkeit, dass er Sicherheiten hinterlegt. Das trifft jetzt alle, die Strom an der Börse verkaufen. Die Stadt Wien ist schon im Juli erstmals eingesprungen. Sind da Fehler passiert? Fehler kann man nicht sagen. Was ich mir vorstellen kann: Wien Energie hat es unterschätzt, dass der Preis so hoch geht, dass die Kreditlinien nicht ausreichen. Keiner hat vermutet, dass die Forwardnotierungen (Strompreis zur künftigen Lieferung) wie vorigen Freitag von 600 auf 1015 Euro die Megawattstunde explodieren. Wien Energie hätte sicherstellen müssen, dass die Liquiditätsreserven da sind. Könnte es sein, dass Wien Energie mit Storm spekuliert hat oder es Leerverkäufe gab? Es soll drei Mal so viel verkauft wie erzeugt worden sein? Das kann ich mir fast nicht vorstellen. Ich schließe aus, dass Leerverkäufe getätigt wurden. Das machen Trader, die Strom kaufen und verkaufen. Energieversorgungsunternehmen tun das nicht. Wien Energie hat im Winter mehr Strom, als sie braucht. Dass sie den absetzen will, verstehe ich. Die zweite Möglichkeit wäre – was ich nicht glaube –, dass vor einiger Zeit größere Mengen Strom günstig gekauft wurden, der jetzt teurer verkauft werden soll. Über das ganze Jahr hat Wien nicht genug Strom und kauft daher ein.

Wie wirken Handelsgeschäfte in der Bilanz? Energieversorger versuchen natürlich, schnell zu reagieren und die Preise zu erhöhen, weil das ist ihre Marge. Bringen sie den teuer eingekauften Strom nicht bei den Kunden unter, machen sie Verlust.

Ist das nicht derzeit der Fall: An der Börse hat sich der Preis verzehnfacht, bei den Haushalten bisher verdoppelt … Ein bisserl wird das jetzt abgefedert, weil die Versorger den Strom schon voriges Jahr billiger eingekauft haben. Aber für nächstes Jahr, wenn sie ordentlich arbeiten, kaufen sie jetzt teuren Strom ein. Wien Energie hat den Preis auf 30 Cent pro Kilowattstunde angehoben. Das stellt auf einen Marktpreis von 250 Euro pro Megawattstunde ab. Tatsächlich liegt er aber bei 800 Euro. Auch wenn man nur 500 Euro annimmt, müsste sich der Preis für Haushalte verdoppeln, sonst machen alle Verlust. Das sagt keiner, aber es ist eine normale Rechnung. Jetzt sind Landesversorger arm, die viele Kunden haben und Strom teuer kaufen, aber die Preise nicht erhöhen können. Das ist die Preisdeckeldiskussion. Aber wenn der Staat eingreift, muss er die Differenz zum Marktpreis entschädigen.

Wird das nicht sehr teuer? Auf uns kommt eine Riesenwelle zu. Man muss bei den Endkunden eingreifen, sonst treiben wir viele Menschen in die Armut, denen man dann wieder helfen muss. Und man muss sich eine intelligente Windfall-Profit-Abgabe überlegen, die branchenspezifisch ist. Wie ließe sich die Preisspirale im Strommarkt stoppen? Indem man den Preisbildungsmechanismus reformiert. Europa ist keine Kupferplatte, wo Strom überall ungehindert fließen kann. Daher kostet Strom in Skandinavien ein Zehntel. Das Merit-Order-Modell funktioniert nicht mehr. Österreich hat heute 80 Prozent erneuerbare Energie mit geringen variablen Kosten, aber 20 Prozent fossile Energie bestimmen den Preis. Außerdem sind erneuerbare Energien volatil und brauchen Speicher, die aber in dem System nicht vorkommen. Das muss dringend reformiert werden, das sagen alle. Nur die Hoffnung, dass das kurzfristig wirkt, stimmt nicht, weil ja jeden Tag Strom verkauft wird, zwei Jahre im Vorhinein.

Jetzt gibt es Forderungen, national den Gaspreis zu deckeln und damit den Strompreis zu senken. Eine gute Idee? Das funktioniert sogar, aber nur kurz. Denn dann würden alle bei uns kaufen. Um zu verhindern, dass wir ausverkauft werden, müsste man die Grenzen dicht machen. Wir würden uns vom großen System, das viele Vorteile bringt, wieder zurück auf eine Insel begeben. Dann schau’n wir lieb aus. Österreich muss dauernd importieren, wir haben keine Reserven. Zu den niedrigen Preisen würde keiner nach Österreich liefern. Da mache ich mir Sorgen, was Blackouts betrifft, weil wir wirklich zu wenig Strom hätten. Das ist einfach zu kurz gedacht.

Und auf EU-Ebene? Wenn es auf europäischer Ebene passiert, bin ich dabei. Vielleicht geht es auch mit einigen größeren Ländern, Deutschland muss unbedingt dabei sein, auch die Schweiz, Italien und Frankreich. Wolfgang Anzengruber (*1956) war ab 1999 Vorstand der Salzburger Stadtwerke und der Salzburg AG. Nach fünf Jahren als Chef bei Palfinger wechselte Anzengruber zum Verbund, den er von 2009 bis 2020 führte.

von Monika Graf

Salzburger Nachrichten

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