Analyse. Seit Kriegsbe-ginn wird der Gasriese missbraucht wie nie. Noch verdient er üppig. Das kann sich schnell ändern. Was dann?
Wenn Insider des weltgrößten Gaskonzerns, Gazprom, der knapp 500.000 Leute beschäftigt und von dem Schätzungen zufolge zusätzlich etwa eine Million Russen aus vorgelagerten Sektoren abhängen, von seinem Innenleben erzählen, mangelt es nicht an erheiternden Schnurren. Gerade Alexej Miller, seit 2001 Chef des Unternehmens, sorgt für unvorteilhafte Anekdoten. Etwa mit einem seiner Spitznamen: Postler wird er hinter seinem Rücken angeblich genannt. Miller sei nämlich der, der zu Wladimir Putin mit Berichten laufe, die so erstellt seien, dass sie dem Kremlchef gefallen. Und Miller sei es auch, der mit Aufträgen an den Konzern aus dem Kreml zurückkomme. Kurz: Miller mache, was Putin sage.
Ist der halb staatliche Konzern also zu einem Werkzeug des Kreml geworden, um außenpolitisch mit dem Gashahn durchzusetzen, was anders nicht zu erreichen ist?
Drei Funktionen
Es sei dies eine der drei Funktionen, die Gazprom nach Putins Machtantritt im Jahr 2000 immer mehr bekommen habe, sagt Michail Krutichin, Partner des Moskauer Energieberaters Rus Energy, zur „Presse“. Eine zweite Funktion sei, staatliche Gelder in die privaten Hände von Freunden des Kremlchefs zu lenken, indem Gazprom unnötige und sündteure Megaprojekte ohne Ausschreibung an deren Baufirmen übergebe — „der Bau eines russischen Pipelinekilometers ist bis zu drei Mal so teuer wie in anderen Ländern“. Nur die dritte Funktion von Gazprom sei laut Krutichin die kommerzielle, nämlich Gas zu fördern, zu transportieren und zu verkaufen — etwas, das die Russen über Jahrzehnte zuverlässig erledigt hätten.
Heute freilich, im siebenten Monat des Ukraine-Krieges, ist genau diese Hauptfunktion und -tätigkeit gestört wie nie, weil der Verkauf in Europa, Gazproms Cashcow, drastisch reduziert wurde.
Jüngster Höhepunkt ist der Lieferstopp über die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Schon zuvor, Ende April, wurde die Lieferung nach Bulgarien ausgesetzt und die Durchleitung durch die Pipeline Jamal über Belarus nach Polen vom Staat verboten, weil Polen Gazprom sanktioniert hatte. Und im September wurden die Lieferungen an den französischen Konzern Engie eingestellt, da dieser nach russischer Darstellung die Julirechnungen noch nicht bezahlt habe. Gazprom wolle mit dem Manipulieren beim Exportvolumen die Sanktionsentscheidungen der EU-Kommission beeinflussen, sagte der renommierte russische Ex-Zentralbanker und Finanzökonom Oleg Wjugin, kürzlich im Interview mit der „Presse“.
Schuss ins eigene Knie
Der Testlauf fand schon im Sommer 2021 statt, als der Konzern mit temporären Lieferdrosselungen zum ersten Mal bewusst die Gaspreise in ungeahnte Höhen trieb. Die EU habe damals die Zeichen nicht erkannt, sagt Walter Boltz, Energieberater und zuvor Chef der E-Control, auf Anfrage. Seit dem Ukraine-Krieg hat Russland die Methode einfach fortgesetzt und dreht dort wie da den Gashahn zu.
Noch ist mit freiem Auge nicht sichtbar, dass neben Europa, wo alle vor dem Winter zittern, auch Gazprom angezählt aus diesem Ringkampf gehen wird. Noch ist der Gaspreis zu hoch, als dass er die ausfallenden Exportvolumina nicht kompensieren könnte. So hat das Unternehmen nach dem Vorjahresgewinn von 2,1 Billionen Rubel (rund 27,5 Milliarden Euro) im ersten Halbjahr 2022 überhaupt einen Rekordgewinn von 2,5 Bio. Rubel (umgerechnet 41,6 Mrd. Euro) eingefahren. Nur der hohe Rubelkurs hat verhindert, dass der Gewinn auch auf Rubelbasis noch deutlich höher lag.
Beispiellose Dimension
Aber der Staat holt sich auch so Geld vom Konzern, was das Zeug hält. So hat das Parlament entschieden, dass Gazprom, schon traditionell der größte Steuerzahler, einmalig um 1,2 Bio. Rubel mehr Fördersteuer zahlen muss, was der nicht gezahlten Dividende für das Gesamtjahr 2021 entspricht. Damals hatte Putin den Stopp der Dividende verfügt. Inzwischen aber hat er unerwartet die Zahlung einer Zwischendividende für das erste Halbjahr angeordnet — zum ersten Mal in der Konzerngeschichte. Umgerechnet 20 Mrd. Euro gehen damit an die Aktionäre. Und da der Staat gut die Hälfte der Anteile hält, bekommt er über zehn Milliarden. „Er braucht das Geld wohl für den Krieg“, so Krutichin. Tatsächlich tun sich im Budget Löcher auf. Das Finanzministerium schätzt, dass die Ausgaben schon heuer die Einnahmen um 1,7 Bio. Rubel (28,3 Mrd. Euro) übersteigen.
Dass die Unternehmen dem Staat zu dienen haben, ist in Russland nicht neu. Dass sie aber gleichzeitig um ihr Kerngeschäft und ihren Kernmarkt im Interesse außenpolitischer Ziele gebracht werden, ist in dieser Dimension beispiellos. Und nicht ohne Risiko. Zum einen nämlich wollen westliche Abnehmer und auch die Ukraine vor das Internationale Schiedsgericht ziehen, weil Lieferverträge nicht eingehalten worden sind. Zweitens „schafft Gazprom mit den Lieferstopps die Situation, dass sich die Käufer abwenden“, meint Wjugin. Und es „kann niemand sagen, ob die Preise auch im nächsten Jahr hoch sind“. Dann aber wird das geringere Exportvolumen zum Problem.
Implosion beim Export
Die Prognosen sind dramatisch. Nach den 175 Mrd. Kubikmetern, die 2021 in den Westen inklusive Türkei geflossen seien, werden heuer voraussichtlich nur noch 100 Mrd. Kubikmeter geliefert, schreibt die Investitionsbank BCS Global Markets in einer Studie. Bis 2025 sollte das Volumen auf 69 Mrd. Kubikmeter schrumpfen. Bemerkenswert ist auch die Prognose, dass die Pipelines im Norden Europas leer bleiben werden und abgesehen vom ukrainischen Transit, wo das Durchleitungsvolumen von den vorjährigen 42 Mrd. Kubikmetern bis 2025 auf 15 Mrd. Kubikmeter absacken dürfte, nur noch die Türkei und über die Türkei Südosteuropa beliefert werden. Gazprom selbst ist in seinem Modell optimistischer und meint, dass ein gewisses Volumen wohl auch 2025 noch durch Nord Stream fließen und damit das Exportvolumen nach Europa auf den heurigen 100 Mrd. Kubikmetern verharren werde.
Der Export nach China, Putins große Hoffnung, werde jedenfalls steigen — von den vorjährigen zehn und den heurigen 16 Mrd. Kubikmetern auf die ab 2025 vereinbarten 38 Mrd. Kubikmeter pro Jahr, wie BCS Global Markets schreibt. Damit wäre die neue Pipeline Power of Siberia ausgelastet. Weitere Pipelineprojekte nach China sind bisher von Russland nur angekündigt, aber nicht vereinbart, zumal die Chinesen schon jetzt deutlich weniger zahlen als Europa. Und den Export von verflüssigtem Erdgas (LNG) in andere Erdteile hat Gazprom überhaupt versäumt und kann ihn kaum nachholen, weil der Westen die Technologie sanktionsbedingt nicht mehr liefert.
Aber selbst wenn die Chinesen mehr kaufen wollten, was sie nicht vorhaben, müssten die großen Pipelines erst gebaut werden. Auf 100 bis 150 Mrd. Dollar schätzen Experten die Kosten, LNG-Anlagen inbegriffen. Das Geld dafür wird der Konzern kaum aufbringen können, wenn er vom Staat weiter für den Krieg ausgesaugt wird — und wenn Miller jener Postbote bleibt, zu dem Putin ihn degradiert hat.
von Eduard Steiner
Die Presse