Keine einfache Abkehr vom russischen Gas

27. Feber 2023
Sorge um die Energie steht ganz oben - Sinnersdorf, APA/dpa

Gastkommentar

Europa benötigt für Energiesicherheit im nächsten Winter 30 Prozent des weltweiten LNG-Marktes.

Die Abkehr vom russischen Gas wird heuer eine große Herausforderung sein, da die Länder Schwierigkeiten haben werden, genügend importiertes Flüssiggas (LNG) zu finden und zu verarbeiten, um das Defizit zu decken. Erneuerbare Energien sind die langfristige Lösung, aber die Infrastruktur ist noch nicht vorhanden, um fossile Brennstoffe zu ersetzen. Das Ringen um genügend fossile Brennstoffe zur Deckung der kurzfristigen Nachfrage dürfte zu höheren Energierechnungen und wahrscheinlich zu einer Rezession führen.

Die Großhandelspreise für Gas sind im Sommer in die Höhe geschnellt. Dies führte zu umfassenden Vorhersagen über Stromausfälle, Rationierungen und Menschen, die in ihren Häusern frieren würden. Seitdem sind die Preise zurückgegangen, da sich gezeigt hat, dass die meisten Länder Europas ihre Gasspeicher vor dem Winter weitgehend gefüllt hatten. Es wäre jedoch ein Fehler, zu glauben, dass die Energiekrise vorbei sei – in vielerlei Hinsicht hat sie gerade erst begonnen.

Die Gasspeicher in Europa sind im Vergleich zu den Vorjahren gut gefüllt, und ausgehend von der derzeitigen Nachfrage dürfte der Kontinent im heurigen Frühjahr noch über 30 bis 50 Milliarden Kubikmeter Speicher verfügen – eine weitaus bessere Position, als man sich noch vor wenigen Monaten vorstellen konnte. Dies bedeutet, dass Europa in diesem Winter wahrscheinlich nicht mit einer größeren Energiekrise konfrontiert sein wird, es sei denn, es kommt zu einer Nachfragespitze aufgrund von Kälte oder einer Umkehrung der Nachfragevernichtungsmuster.

Für eine Siegeserklärung im Energiekrieg ist es jedoch noch viel zu früh. Obwohl Wladimir Putins Versuch, Europas Abhängigkeit von russischem Gas als Erpressungsinstrument zu nutzen, gescheitert ist, steht Europa immer noch vor der großen Herausforderung, seinen Energiebedarf im nächsten Winter und darüber hinaus zu decken. Die Zeit, in der Russland als Hauptlieferant zur Deckung des europäischen Energiebedarfs fungierte, ist vorbei – es gibt keinen Weg zurück zum Status quo vor dem Ukraine-Krieg. Russland hätte seine Nord-Stream-Pipelines nach Deutschland nicht sabotiert, wenn es erwägen würde, wieder Gas nach Europa zu liefern – und selbst wenn es so wäre, gibt es in Europa kein Interesse daran, wieder von russischer Energie abhängig zu werden. Europas künftiger Energiebedarf wird auf andere Weise gedeckt werden müssen.

US-Kapazitäten am Maximum

Die Abkehr vom russischen Gas wird jedoch nicht einfach sein. Trotz des Rückgangs der Energieeinfuhren aus Russland seit der Invasion entfallen immer noch mehr als 40 Prozent der europäischen Gasvorräte für diesen Winter auf Russland. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn Europa im nächsten Frühjahr noch über 50 Milliarden Kubikmeter an Gasvorräten verfügt, muss es erneut eine sehr große Menge LNG anziehen, um die Zeit bis zum Frühjahr 2024 sicher zu überbrücken. Bei der aktuellen Nachfrage würde dies bedeuten, dass Europa 30 Prozent des weltweiten LNG-Marktes beziehungsweise 35 Prozent des weltweiten Spotmarktes an sich ziehen müsste, wenn man die bereits vertraglich vereinbarten Mengen herausrechnet.

Dies könnte eine große Aufgabe sein. Die LNG-Importe aus den USA nach Europa sind in diesem Jahr um 12 Prozent gestiegen, aber diese Wachstumsrate kann nicht aufrechterhalten werden, da die Produktions- und Exportkapazitäten in den USA derzeit am Maximum sind. Selbst wenn mehr US-Exporte verfügbar wären, gibt es in Europa derzeit nur begrenzte Kapazitäten für die Verarbeitung von LNG-Importen. Es gibt zwar Pläne für den Bau einer neuen LNG-Verarbeitungsinfrastruktur in Europa, doch wird dies wahrscheinlich mehrere Jahre in Anspruch nehmen.
Hinzu kommt, dass ein Großteil des heuer nach Europa importierten LNG aus Russland kam, was im nächsten Jahr aufgrund der Sanktionen nicht mehr möglich sein wird. Die weltweite Nachfrage nach LNG dürfte nächstes Jahr ebenfalls steigen, vor allem wenn China seine Null-Covid-Politik lockert. LNG ist bereits jetzt sehr teuer, und die Preise werden wahrscheinlich steigen, wenn die Nachfrage zunimmt.

Langfristig werden die erneuerbaren Energien die russischen Importe als Hauptlieferanten zur Deckung des europäischen Energiebedarfs ersetzen, aber diese Aussicht ist noch einige Jahre entfernt. Die Planung, Finanzierung und Errichtung von Wind- und Solarparks ist ein mehrjähriger Prozess. Die Installation der Leitungen und anderer Infrastrukturen, die es Haushalten und Unternehmen ermöglichen, Wind- und Solarenergie zu nutzen, kann sogar noch länger dauern. Das Angebot an Windturbinen und Solarmodulen ist auch aufgrund von Engpässen, die sich aus Chinas Covid-Sperrmaßnahmen ergeben, sowie aufgrund von Verzögerungen bei der Genehmigung und Finanzierung begrenzt. Erneuerbare Energien sind die Zukunft, aber nicht die einzige Lösung zur Deckung des europäischen Energiebedarfs in der unmittelbaren Zukunft.

Kurzfristig steigende Preise

Das bedeutet, dass fossile Brennstoffe noch für einige Zeit eine wichtige Rolle spielen werden. Kurzfristig werden die Preise steigen und die Volatilität wird zunehmen, da die Länder versuchen, alternative Gasquellen zu finden. Dies wird mit enormen Kosten verbunden sein, da die Regierungen mit steigenden Preisen zu kämpfen haben und gleichzeitig die Energierechnungen ihrer Bevölkerung subventionieren. Wenn Länder Schwierigkeiten haben, den gesamten Gasbedarf zu decken, muss der Verbrauch möglicherweise gesenkt werden – aber es wird nicht einfach sein, die Menschen davon zu überzeugen, weniger Gas und Strom zu verbrauchen.

Viele europäische und andere Länder dürften heuer vor einer Rezession stehen, die größtenteils durch die Energiekrise verursacht wird. Es ist also klar, dass der Einmarsch Russlands in der Ukraine noch längere Zeit auf den Energiemärkten nachhallen wird. Die Drohung, die Gasleitungen abzuschalten, mag eine Waffe gewesen sein, die Russland nur einmal abfeuern konnte, aber ihre makroökonomischen Auswirkungen werden noch jahrelang zu spüren sein.
Justin Thomson ist Chief Investment Officer für International Equity bei T. Rowe Price. Foto: T. Rowe Price
LNG-Terminal im belgischen Zeebrugge.

Wiener Zeitung