Rom will Atomstrom statt Solarstrom

19. Juli 2024, Wien

Strom. Italien will seine Emissionen lieber mit AKW als mit Ökostrom senken. Osteuropa plant Dutzende neue Kernkraftwerke. Doch ob das alles aufgeht, ist unklar.

Italiens Premierministerin Giorgia Meloni genießt es, gegen den Strom zu schwimmen. Kürzlich ließ die rechtsgerichtete Politikerin wissen, dass Italiens Landschaft zu hügelig und schön sei, um sie mit Solarpaneelen zuzupflastern und strich die Förderungen für Photovoltaik zusammen. Stattdessen will Meloni 35 Jahre, nachdem Italien sein letztes Atomkraftwerk geschlossen hat, wieder Kernreaktoren bauen lassen, um die Treibhausgasemissionen des Landes zu senken. In zehn Jahren sollen die sogenannten SMR (small modular reactors) einsatzbereit sein, sagte Umweltminister Gilberto Pichetto Fratin zur „Financial Times“.

Ganz ähnliche Töne sind aus Osteuropa zu hören. Auch dort wollen Regierungen von Tschechien über Polen bis nach Rumänien massiv in neue Atomkraftwerke investieren. Dieses „größte Projekt des Jahrhunderts“ umfasst mindestens ein Dutzend neue Kernkraftwerke im Wert von fast 130 Milliarden Euro, errechnete die Finanzagentur Bloomberg. Doch die vollmundigen Ankündigungen vieler EU-Staaten haben bis dato wenig mit der Realität zu tun.

Seit Jahren investiert Europa (und der Rest der Welt) deutlich mehr in Erneuerbare als in Kernenergie. Lediglich China und Russland bauen tatsächlich in größerem Stil AKW zu. In Summe geht der Anteil der Nuklearenergie am globalen Strommix konstant nach unten. Auch Europa hat die Atomenergie nur bis zu den 1990er-Jahren spürbar ausgebaut, seither geht es bergab, zeigt der World Nuclear Industry Status Report 2023 (siehe Grafik). Aktuell arbeiten nur die Slowakei und Ungarn (mit Geld aus Moskau) tatsächlich am Bau neuer Reaktoren. In Westeuropa sind es vor allem Belgien, Frankreich, Finnland und Schweden, die weiterhin noch mindestens ein Drittel ihres Energiebedarfs aus AKW decken. Doch Belgien hat, ähnlich wie Spanien und Deutschland, bereits den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen.

Kernkraft verliert weltweit

Neben der ungelösten Frage der Endlagerung ist es vor allem ein Problem, das der Branche zu schaffen macht: Atomenergie ist mit Abstand die teuerste Variante, um Strom zu erzeugen. So kostete eine Megawattstunde Atomstrom 180 Dollar, Windstrom hingegen nur 50 und Elektrizität aus Gaskraftwerken nur 70 Dollar je Megawattstunde. Dies ergibt sich aus den enormen Investitionskosten während der Bauzeit, die gerade in Osteuropa auch viele öffentliche Haushalte vor große Schwierigkeiten stellen. „Die Finanzierung ist bei Weitem das wichtigste Thema“, sagt Jan Horst Keppler, Chefökonom der Nuclear Energy Agency. Viele osteuropäische Regierungen dürften ihre Pläne daher erst dann umsetzen, wenn sie die Genehmigung der EU-Hilfen für solche Projekte in der Tasche haben. Neben Kapital fehlen den Staaten auch Fachkräfte wie Schweißer, Ingenieure und Planer, um die Bauvorhaben rechtzeitig und innerhalb des Budgets abzuschließen.

Italien will all diese Probleme umgehen, indem es auf kleine, modulare Reaktoren setzt. Um diese Mini-AKW ist zuletzt ein kleiner Hype entstanden. In den USA werden sie etwa von Microsoft-Gründer Bill Gates als kongenialer Partner der Erneuerbaren in der Energiewende gepriesen. Die kleinen Reaktoren sollen nicht nur sicherer, sondern auch deutlich billiger und schneller verfügbar sein, als ihre großen Brüder.

Aber auch hier kann die Realität mit den Wünschen nicht Schritt halten. In den letzten beiden Jahren wurden exakt zwei kleine, modulare Reaktoren gebaut. Einer in Russland und einer in China. „Trotz des medialen Rummels und all der Absichtserklärungen sind diese beiden Kernkraftwerke die einzigen, die laufen – und das angeblich nicht allzu gut“, heißt es im World Nuclear Industry Status Reports 2023. Auch die kleinen Atomkraftwerke brauchen länger als geplant, bis sie gebaut sind – und sprengen die Kosten.

Italiener lehnen AKW ab

Bevor Giorgia Meloni in Italien den Gegenbeweis antreten kann, muss sie ohnedies noch eine andere Hürde nehmen. Nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 stimmten die Italiener mit großer Mehrheit dafür, Subventionen für Atomenergie zu beenden und stoppten so de facto den AKW-Ausbau. Umweltminister Fratin ist zuversichtlich, dass die „historische Abneigung“ überwunden werden könne. Ex-Premier Silvio Berlusconi hat das 2011 schon probiert: Sein Referendum für die Rückkehr der AKW nach Italien lehnten damals 90 Prozent der Italiener ab.

von Matthias Auer

Die Presse