Rohstoffe. Seit dem Ukraine-Krieg hat Europa die Abhängigkeit von russischen Rohstoffen reduziert. Wie weit ist man dabei vorangekommen? Und was hat es mit neuen Drohungen Putins auf sich?
Die jüngsten Nachrichten vom globalen Gasmarkt sind insbesondere für Europa nicht gerade beruhigend. Da machen Tanker mit verflüssigtem Erdgas (LNG) etwa vor deutschen Häfen kehrt und fahren lieber nach Asien, wo plötzlich ein höherer Preis bezahlt wird. Da verzögern sich neue Projekte zur LNG-Produktion. Da droht ein kälterer Winter als zuletzt. Und da soll Ende 2024 der Vertrag über den russischen Gastransit durch die Ukraine enden, über den zuletzt immerhin noch fünf Prozent der Gasimporte nach Europa kamen.
Grund zur Panik und späte Erkenntnis, dass sich Europa – wie bei anderen Rohstoffen – vielleicht zu schnell von russischem Gas losgesagt hat, das vor dem Ukraine-Krieg noch 40 Prozent der europäischen Gasimporte abgedeckt hatte?
„Markt knapper als gedacht“
Man solle die Kirche im Dorf lassen, meint Walter Boltz, Energieexperte und ehemaliger E-Control-Chef, auf Anfrage der „Presse“. „Es findet eine gewisse Panikmache statt. Eigentlich sind die Speicher in Europa sehr voll. Erst wenn es zwei Monate hindurch minus 20 Grad hätte, würde es eng.“
Der Bruch mit dem russischen Konzern Gazprom, der sein Gas über Pipelines nach Europa lieferte, war schwer und teuer. Und ist es noch immer. Zwar sind die aktuellen Gaskosten gegenüber den Spitzenwerten von 2022 deutlich gesunken, doch sind die Benchmark-Futures in Europa immer noch etwa doppelt so hoch wie vor der Krise, als Gazprom die Lieferungen über Pipelines nach Europa zu drosselte bzw. Europa den Einkauf radikal reduzierte.
Der Wegfall russischen Gases „macht den Markt knapper als gedacht“, schreibt die Commerzbank in einer Analyse.
Nicht zufällig hat die Nachricht darüber, dass das Transitabkommen über 2024 hinaus verlängert werden könnte, den Gaspreis Mitte September kurz fast sieben Prozent fallen lassen, ehe er nach dem Dementi aus Kiew um 5,8 Prozent stieg. Und nicht zufällig haben die EU-Länder in den letzten Jahren relativ stark LNG auch beim zweitgrößten russischen Gaskonzern, Novatek, eingekauft. Im zweiten Quartal 2024 deckte er 18 Prozent der europäischen LNG-Importe – um fünf Prozentpunkte mehr als noch ein Jahr zuvor und übertroffen nur von den USA, Europas nun größtem Gaslieferanten. „Das verbliebene russische Gasvolumen tut dem Markt gut, aber es ist nicht mehr zwingend notwendig“, so Boltz.
Dafür ist russisches Öl für die Welt notwendig wie eh und je. Aus Angst, es könnte völlig ausfallen, explodierte der Preis zu Kriegsbeginn 2022 auf ungeahnte 128 Dollar. „Niemand wusste damals, was passieren würde“, sagte Sergey Vakulenko, vormals russischer Ölmanager und nun Senior Fellow am Carnegie Center in Berlin, jüngst im Interview mit der „Presse“: „Russland exportiert mehr als sieben Millionen Barrel pro Tag (sieben Prozent der globalen Förderung, Anm.). Das russische Ölvolumen kann keiner ersetzen.“
Teure Entflechtung
Das hat auch der Westen bei seinen Maßnahmen gegen Russland mitbedacht, weshalb er Ende 2022 keine Exportbeschränkungen, sondern nur einen Preisdeckel von 60 Dollar je Barrel Öl verfügt hat. Inzwischen kauft Europa von seinem vormaligen Großlieferanten kein Öl mehr. Russland freilich verliert durch die Umlenkung des Öls nach Asien etwas Geld: Und „auch die Europäer zahlen jetzt mehr, weil sie statt in Russland Öl teurer am Persischen Golf einkaufen müssen“, so Vakulenko.
Europa und Russland, einst engste Handelspartner, driften wirtschaftlich rapide auseinander. Um 59 Prozent sind die EU-Exporte nach Russland zwischen zweitem Quartal 2022 und zweitem Quartal 2024 laut Statistikamt Eurostat gefallen, um 87 Prozent die Importe aus Russland, was größtenteils am implodierten Öl- und Gasimport liegt.
Auch wenn das für beide Seiten teure Folgen hat: zumindest diese beiden Rohstoffe können inzwischen kaum noch als gegenseitiges Druckmittel verwendet werden.
Neue Erpressungsfelder?
Anders könnte das bei wichtigen Metallen sein, wie Kreml-Chef Wladimir Putin neulich meinte. Mitte September schlug er der Regierung, vor, „über gewisse Beschränkungen“ beim Export bestimmter Waren wie Uran, Titan oder Nickel nachzudenken. Außer den genannten „gibt es noch andere“, sagte er.
„Tatsächlich waren Europa, insbesondere Deutschland, und die USA vor dem Krieg bei einigen dieser Rohstoffe stark von Russland abhängig“, sagt Johannes Perger, Experte der deutschen Rohstoffagentur (Dera), zur „Presse“. „Die Abhängigkeit wurde freilich ganz gut reduziert.“
Nehmen wir Nickel, wo Russland mit 13 Prozent den viertgrößten Exportanteil der Welt hält und wo auch keine westlichen Sanktionen verhängt wurden. Hatte die EU vor dem Krieg 31 und die USA elf Prozent ihrer Rohnickel-Importe aus Russland bezogen, so 2024 nur noch 15 Prozent bzw. die USA null. Diese Dynamik fand wohlgemerkt vor dem Hintergrund statt, dass der Nickelmarkt mittelfristig als überversorgt gilt und Nickel durch andere Technologien in der Elektromobilität als kritisches Mineral an Bedeutung verliert, schreibt die Commerzbank.
Produziert wird das russische Nickel übrigens vorwiegend vom börsennotierten Konzern Nornickel. Dieser gehört dem aktuell fünfftreichsten Russen, Wladimir Potanin, der ob der Rohstofflastigkeit seiner Unternehmen als einer der wenigen Oligarchen auch nicht auf der EU-Sanktionsliste steht.
Palladium und Titan
Nornickel ist übrigens auch der weltgrößte Produzent des Edelmetalls Palladium – zentraler Rohstoff für Benzinkatalysatoren. Russlands Anteil am globalen Export liegt bei 15 Prozent. Die EU konnte ihre Abhängigkeit von Russland binnen dreier Jahre auf zwölf Prozent halbieren. In den USA kommen noch 43 Prozent des Palladium-Imports aus Russland.
Bei Titan wiederum liegt Russland mit einem Weltexportanteil von sechs Prozent unter den Top vier. Die russische Produktion gehört in den Einflussbereich der staatlichen Rüstungsholding Rosoboronexport. Als Metall sehr fest, leicht und rostfrei, findet Titan Verwendung im Schiffs- und Flugzeugbau und in der Elektronik. Der US-Flugzeugbauer Boeing war daher Großkunde der Russen, der europäische Airbus-Konzern ebenso. Beide wollten sich davon lösen, ihre Zulieferer kaufen freilich weiter in Russland ein. In der EU hat sich der russische Anteil am Titan-Import von 2022 bis 2024 auf zehn Prozent halbiert, in den USA von zwölf auf 3,4 Prozent reduziert.
Heikle Situation bei Uran
Weitaus heikler als bei den vorherigen Rohstoffen ist die Situation bei angereichertem Uran, wo Russland einen globalen Exportanteil von 33 Prozent hält, monopolisiert im Staatskonzern Rosatom. In Europa sind etwa Frankreich, Finnland und Teile Osteuropas auf russisches Uran angewiesen, da sie in Russland hergestellte Atomreaktoren nutzen. Die EU hat Russlands Anteil am Import inzwischen von über 40 Prozent auf unter zehn Prozent gesenkt, in den USA blieb er bei leicht über 20 Prozent, wobei er im zweiten Kriegsjahr 2023 auf ein Hoch von 27 Prozent stieg. Allerdings begannen die USA 2023 erstmals seit 70 Jahren, selbst höher angereichertes Uran zu produzieren.
von Eduard Steiner