Quelle: Der Standard, 18.08.2021 (S. 5)
Wer bei ersten Schwierigkeiten einknicke, brauche das Rennen ums Kanzleramt gar nicht erst anzutreten, sagt die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Sie ist überzeugt: Viele Menschen wollen jetzt Veränderungen in Deutschland.
STANDARD: Werden Sie die nächste Bundeskanzlerin Deutschlands?
Baerbock: Darüber entscheiden in einer Demokratie ja zum Glück die Wählerinnen und Wähler. Aber ja: Wir treten an, um die nächste Bundesregierung nicht nur inhaltlich, sondern auch personell an führender Stelle zu gestalten.
STANDARD:Joschka Fischer nannte das Kanzleramt einmal die „Todeszone“. Sie kämpfen um den Einzug. Wie haben Sie den Wahlkampf bisher erlebt?
Baerbock: Als Grüne und Union im Frühjahr ihre Kanzlerkandidaten verkündet haben, gab es eine Art Vorwahlkampf. Da gab es auch bei uns Startschwierigkeiten, es sind Fehler passiert. Aber die eigentliche inhaltliche Auseinandersetzung beginnt ja erst jetzt.
STANDARD: Sie mussten sich für Ihren Lebenslauf, zu spät gemeldete Nebeneinkünfte und Ihr Buch rechtfertigen. Hatten Sie irgendwann einmal das Gefühl: Ich hab keinen Bock mehr?
Baerbock: Es gab Tage, die gut gelaufen sind, und andere, die schlechter verlaufen sind. Mir war von Anfang an klar, dass es Gegenwind geben wird, wenn man als Partei und Person antritt und sagt: Ich will dieses Land erneuern und den Status quo an vielen Stellen verändern.
STANDARD: Gab es nie den Impuls: Dann soll lieber Robert Habeck die Kanzlerkandidatur übernehmen?
Baerbock: Ich komme ja aus dem Sport (Trampolinspringen, Anm.). Wenn man da schon nach der Vorrunde sagt, man will nicht weiterspielen, dann hätte man gar nicht antreten sollen. So ein Wahlkampf ist ein Marathon. Erst am Ende entscheidet sich, wer gewinnt.
STANDARD: Verstehen Sie Menschen, die sagen: Wenn eine Partei im Saarland gar keine Wahlliste zustande bringt und die Kanzlerkandidatin so viele Fehler einräumen muss, dann möchte ich den Grünen doch das Kanzleramt lieber nicht anvertrauen?
Baerbock: Wenn Dinge nicht gut laufen, gibt es natürlich kritische Nachfragen. Aber auf der Straße erlebe ich eine große Zahl von Menschen, die sagen: Es geht nicht darum, alles sofort perfekt zu machen oder so lange zu warten, bis es perfekt ist. Sondern wir müssen jetzt handeln. Das Nichtstun der vergangenen Jahre hat dazu geführt, dass wir in Krisen nur noch versuchen, das Ruder herumzureißen, aber auf Krisen nicht vorbereitet sind.
STANDARD: Sind die Deutschen für eine grüne Kanzlerin bereit? Oder denken zwar viele grün, wählen Ihre Partei aber dann lieber nicht, weil dies Einschränkungen bringen könnte?
Baerbock: Unsere Gesellschaft ist bunter und vielfältiger geworden und hat vor allem Verständnis dafür, wie wichtig Nachhaltigkeit ist. Andererseits gibt es in Deutschland immer einen starken Wunsch nach Stabilität und Sicherheit. Wir müssen daher erklären, warum gerade Veränderung dafür sorgt, dass man das erhält, was einem wichtig ist.
STANDARD: Sie fordern ein Tempolimit von 130 km/h und eine Erhöhung des Benzinpreises von 16 Cent. In Frankreich hat dies die Gelbwesten-Proteste ausgelöst. Sehen Sie eine solche Gefahr in Deutschland auch?
Baerbock: Deutschland ist eines der wenigen Länder weltweit, das kein Tempolimit auf der Autobahn hat. Und es ist ja nur eine Maßnahme von vielen, die nötig ist und die vor allem der Sicherheit dient. Zum CO2-Preis: Er ist ja bereits von Union und SPD eingeführt. Was wir wollen, ist ein etwas höherer und schnellerer Anstieg, um klimafreundliches Verhalten zu belohnen und klimaschädliches Verhalten stärker zu belasten. Anders als in Frankreich schlagen wir vor, die Einnahmen aus dem CO2-Preis an die Menschen zurückzugeben.
STANDARD: Sie wollen dieses Energiegeld von 75 Euro jährlich jeder Person zurückzahlen. Direkt oder über einen Steuernachlass?
Baerbock: In Deutschland hat jeder von Geburt an eine Steueridentifikationsnummer. Darüber könnte es laufen. In der Schweiz wird das Geld über die Krankenkasse ausgezahlt. Auch dies wäre eine Möglichkeit.
STANDARD: Der neue Bericht des Weltklimarates enthält noch schlimmere Vorhersagen über den Zustand des Planeten. Wie kann Deutschland Druck auf unwillige Staaten ausüben?
Baerbock: Als Erstes sollte Deutschland von der Bremse runter: beim Ausbau der erneuerbaren Energien, beim Umbau der Industrie. Solange es selbst da nicht entschieden vorangeht, wird es auch andere nicht mitreißen. Deutschland und Europa müssen wieder der Motor für Innovationen werden.
STANDARD: Wird russisches Gas über die Pipeline Nord Stream 2 strömen, wenn Grüne regieren?
Baerbock: Ich halte diese Pipeline nicht nur aus Klimaaspekten, sondern vor allen Dingen aus geostrategischen Gründen für fatal; insbesondere für die Ukraine, aber auch mit Blick auf die Geschlossenheit und Souveränität Europas. Selbst wenn der Bau fertiggestellt wird, bedeutet das nicht, dass automatisch Gas durchgeleitet wird. Die Leitung ist noch nicht vollends genehmigt.
STANDARD: Die Genehmigung zu verweigern würde großen Ärger mit Moskau bedeuten. Sie würden das in Kauf nehmen?
Baerbock: Die aktuelle Bundesregierung hat leider die Haltung, wir machen lieber mal die Augen zu vor der Realität. Das führte dazu, dass wir, mit Blick auf die Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine, keinen Schritt vorangekommen sind. Wir hatten den Giftanschlag in Großbritannien, den Tiergarten-Mord mitten in Berlin, die Vergiftung von Herrn Nawalny. Neben dem Dialog, der immer wichtig ist, muss man Härte zeigen gegenüber dem russischen Regime, wenn es um die europäischen Werte und Interessen geht.
STANDARD: Muss sich Deutschland angesichts der Lage in Afghanistan darauf einstellen, wieder mehr Flüchtlinge aufzunehmen?
Baerbock: Die Lage in Afghanistan ist dramatisch und komplett unübersichtlich. Niemand weiß, wie sie sich von Stunde zu Stunde verändert. Jetzt muss es erst einmal gelingen, Leben zu retten – das der Botschaftsangehörigen, der Menschen, die als Ortskräfte für uns alles riskiert haben, auch in EU-Missionen.
STANDARD: Angela Merkel tritt demnächst nach 16 Jahren ab. Was imponiert Ihnen an ihr?
Baerbock: Ich habe großen Respekt vor der Art und Weise, wie sie ihr Amt ausgefüllt hat – menschlich, unprätentiös, immer mit Blick auf die Fakten und Notwendigkeiten. Aber sie hatte eine Partei hinter sich, die nicht bereit ist, die großen Herausforderungen unserer Zeit wirklich vorausschauend anzugehen.
STANDARD: In Österreich regieren die Grünen. Sind sie Vorbild für Sie?
Baerbock: Man kann die Situation nicht vergleichen. In Österreich war die FPÖ an der Macht. Da haben die Grünen gesagt, wir gehen im Zweifel selbst in die Regierung, um eine neue Beteiligung der FPÖ zu verhindern. In Deutschland würden wir aus einer ganz anderen Position heraus in eine Regierung eintreten.
Annalena Baerbock (40) war von 2009 bis 2013 Grünen-Chefin in Brandenburg. Seit 2013 ist sie im Bundestag vertreten. 2018 wurde sie zur Grünen-Bundesvorsitzenden gewählt, seither führt sie die Partei mit Robert Habeck. Sie ist die erste Kanzlerkandidatin der Grünen.
DER STANDARD führte das Interview mit Le Monde und der Financial Times.
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