Milliarden gegen die Gaskrise

24. September 2021

Drohende Versorgungsengpässe und leere Speicher: Überall in Europa steigen die Gaspreise auf Rekordwerte. Jetzt reagieren die EU-Staaten mit Hilfszahlungen.

In ganz Europa sind die Gaspreise sprunghaft gestiegen. In Italien müssen Kunden im Oktober 31 Prozent mehr für Gas bezahlen als noch vor vier Monaten. In Frankreich kletterten die Preise – trotz staatlicher Regulierung – im Jahresvergleich um rund zehn Prozent. Und in Deutschland warnte die Industrie zu Wochenbeginn, der Gaspreis sei um mehr als 200 Prozent auf ein Rekordhoch gestiegen. Der griechische Energieminister Kostas Skrekas spricht bereits von einer „internationalen Energiekrise“. Grund für die steigenden Preise sind drohende Versorgungsengpässe und leere Gasspeicher.

Die hohen Strom- und Gaspreise könnten Rückschläge bei der wirtschaftlichen Erholung nach der Coronakrise auslösen. Europas Regierungen fürchten zudem Proteste ähnlich denen der „Gelbwesten“, die 2018 in Frankreich gegen hohe Benzinpreise auf die Straße gingen. Mit Hilfspaketen – mal aus Steuererleichterungen wie in Spanien, mal durch direkte Zuschüsse wie in Frankreich – versuchen Politiker, die Folgen der Preissteigerungen zu lindern. Die Regierung in Rom könnte bereits an diesem Donnerstag Energiesubventionen von vier Milliarden Euro für Verbraucher und Unternehmen beschließen.

Die Energieminister der Europäischen Union suchten bei einem Treffen am Mittwoch nach Lösungen. „Die Gaspreise sind im letzten Jahr um mehr als 40 Prozent gestiegen. Das ist nicht in Ordnung für unsere Wirtschaft und unsere Bürger“, sagte der slowenische Minister für Infrastruktur, Jernej Vrotec, der das Treffen leitet. bas, ku, lou, wer, efi Milliarden gegen die Gaskrise

Die Frage steht im Raum, wie es zu der Preisexplosion kommen konnte: Spielt Gaslieferant Russland bewusst mit der Liefermenge, um Europa unter Druck zu setzen? Die Bundesregierung sieht das nicht so. Russland halte sich an die Lieferverträge, betonte eine Regierungssprecherin am Mittwoch. Doch die Internationale Energieagentur (IEA) forderte Russland auf, mehr Erdgas nach Europa zu liefern: „Dies ist auch eine Gelegenheit für Russland, seine Glaubwürdigkeit als zuverlässiger Lieferant für den europäischen Markt zu unterstreichen.“

Verantwortlich für den Preisanstieg ist eine brisante Mischung aus unterschiedlichen Faktoren: Ein strenger Winter im vergangenen Jahr und infolgedessen unterdurchschnittlich gefüllte Gasspeicher in Europa gehören dazu (s. Grafik). Ebenso eine hohe Nachfrage aus Asien im Zuge der Wirtschaftserholung nach der Coronakrise, geringere Gasexporte aus Russland und Norwegen, wenig Windenergieaufkommen sowie Unwetter, die eine Flüssiggasanlage in Texas lahmgelegt haben. Und auch der steigende CO2 – Preis treibt den Gaspreis.

Der für Klimafragen zuständige EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans sieht im Gaspreisanstieg eine Bestätigung für die Notwendigkeit einer raschen Energiewende: „Wenn wir den Green Deal schon fünf Jahre früher umgesetzt hätten, dann wären wir jetzt nicht in dieser Situation, sondern unabhängig von Gas und anderen fossilen Energieressourcen.“ Doch nun ist in der EU-Kommission die Sorge groß, dass die hohen Gaspreise die europäische Klimapolitik ausbremsen. Die Brüsseler Behörde plant im Rahmen des Klimapakets Green Deal unter anderem, die Sektoren Gebäude und Verkehr in das Emissionshandelssystem aufzunehmen – also deren CO2 – Ausstoß ebenfalls zu bepreisen.

Dies dürfte die Energiekosten der privaten Haushalte und Unternehmen weiter erhöhen und zu Protesten führen. Zusätzlich kommt es im Zuge der europäischen CO2 – Reduktionsziele zu einer Verknappung der Emissionszertifikate – was ebenfalls die Preise treibt. Die Kommission rechnet vor, dass der gestiegene CO2 – Preis nur in geringem Maße für den Effekt der Preissteigerungen verantwortlich sei.

Ökonom Lorenzo Codogno von der London School of Economics argumentiert: „Im Idealfall sollten die Regierungen versuchen, höhere Gaspreise nicht durch Steuersenkungen oder Subventionen auszugleichen.“ Dann wachse der Druck auf eine wünschenswerte Umverteilung weg vom energieintensiven hin zum grünen Verbrauch. Aber Codogno konstatiert: „In der Praxis ist es für Regierungen schwierig, dem Druck der Bevölkerung zu widerstehen, wenn die Verschiebung so drastisch und schnell wie heute erfolgt.“ Das sei in der Vergangenheit etwa in Frankreich geschehen. „Das gleiche Risiko besteht nun in vielen anderen Ländern Europas.“

Was Codogno beschreibt, ist das grundsätzliche Dilemma der europäischen Energiepolitik: Wenn fossile Energieträger wie geplant allmählich vom Markt verschwinden sollen, müssen sie zwangsläufig allmählich teurer werden. Doch wenn jede Preissteigerung mit neuen staatlichen Hilfen wegsubventioniert wird, kann dieser Nachfrageeffekt nicht greifen. Auch in der aktuellen Krise greifen die Regierungen der EU-Staaten zu kostspieligen Gegenmaßnahmen: Italien: Vier Milliarden Euro gegen die hohe Belastung Die Regierung von Mario Draghi will die Kosten der Energiepreiserhöhung abschwächen. Bereits Ende Juni hatte die Regierung in Rom nach Energiepreisanhebungen einen Fonds über 1,2 Milliarden Euro aufgelegt, mit dem die Preiserhöhungen abgefedert werden. Nun wird ein weiteres Paket über vier Milliarden Euro erwartet.

Vom 1. Oktober an steigen die Energiepreise in Italien drastisch. Strom wird bis zu 40 Prozent teurer im Vergleich zum vorigen Jahresdrittel. Die Gaspreise steigen um bis zu 31 Prozent. Schätzungen zufolge könnten sich die jährlichen Ausgaben für eine durchschnittliche Familie in Italien mit den Preisanhebungen ab Oktober um bis zu 500 Euro erhöhen. 100 Euro entfallen dabei auf die Stromkosten, 400 Euro auf den Gaspreis. Besonders betroffen wäre der Norden Italiens, wo das Gas meist auch zum Heizen von Wohnungen und Büros benutzt wird.

Die Preissteigerungen sind in Italien so hoch, weil das Land einen großen Anteil seiner Energie importieren muss und das teure Gas einen großen Anteil von über 50 Prozent am Strommix ausmacht. Der Verband CNA, der das Handwerk und kleine Unternehmen vertritt, fordert ein schnelles Eingreifen und schlägt unter anderem vor, den Zuschlag für erneuerbare Energien künftig aus Steuermitteln zu finanzieren.

Spanien: Madrid schlägt gemeinsame Gaskäufe der EU vor Die spanische Regierung hat die EU-Kommission aufgefordert, Finanzspekulationen auf dem Markt für CO2 – Zertifikate zu unterbinden und eine gemeinsame Plattform für den Gaskauf der 27 Mitgliedstaaten zu schaffen, um deren Einkaufsmacht zu stärken. Madrid warnt vor sozialen Protesten analog zu den „Gelbwesten“ in Frankreich.

Die spanische Regierung hat im Juni mit einer Senkung der Stromerzeugungssteuer und der Mehrwertsteuer gegen die Preisanstiege bei Energie reagiert. Die Spanier spüren steigende Energiepreise besonders schnell, weil viele von ihnen einen variablen Stromtarif haben. Entsprechend hoch ist derzeit die Aufregung über den Preisanstieg.

Vor einer Woche legte die Regierung in Madrid nach, senkte unter anderem die Stromsteuer bis Jahresende von 5,1 auf 0,5 Prozent. Zudem schöpft die linke Regierung von Premier Sanchez Gewinne der Energieproduzenten ab. Die Regierung rechnet dadurch mit Einnahmen von 2,6 Milliarden Euro. Die will sie nutzen, um die Fixkosten beim Strompreis zu senken. Die Energiekonzerne prüfen juristische Schritte gegen den Eingriff. Betroffen sind vor allem Kernkraftwerke (AKWs) und Wasserkraftwerke. Sie profitieren aber von den Strompreisen, die der hohe Gaspreis steigen lässt. In Spanien orientiert sich der Strompreis am Preis des teuersten Anbieters.

Zudem nutzt Madrid zusätzliche 900 Millionen Euro aus den Einnahmen von Auktionen von CO2 – Zertifikaten, um den Strompreis zu senken. Sie kommen zu den 1,1 Milliarden Euro hinzu, die die spanische Regierung ursprünglich für dieses Jahr aus den CO2 – Auktionen bereitstellen wollte.

Nach Angaben der Verbraucherschutzorganisation OCU ist die Stromrechnung eines spanischen Haushalts im September im Vergleich zum Vorjahr um 48 Prozent gestiegen.

Für den staatlich regulierten Gaspreis für private Haushalte legte die spanische Regierung Preisobergrenzen fest. So darf der Tarif bei der im Oktober anstehenden vierteljährlichen Überprüfung im Schnitt nur um 4,4 Prozent steigen.
Frankreich: Energieschecks für ärmere Haushalte In Frankreich sind die Gastarife trotz staatlicher Reglementierung im Juli um zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen, im August um weitere fünf Prozent. Seit Januar 2019 sind sie insgesamt um 15,8 Prozent gestiegen, so Frankreichs Kommission zur Regulierung der Energie (CRE). Besonders tief in die Tasche greifen müssen die Kunden, die mit Gas auch heizen. Fünf Millionen Menschen sind betroffen. Kunden in Frankreich, die noch einen alten Vertrag haben, in dem ein fester Gaspreis fixiert ist, sind bis Juni 2023 nicht von den Steigerungen betroffen – wie sie vorher auch nicht von Reduzierungen profitierten.

Die französische Regierung gibt nun 580 Millionen Euro an ärmere Haushalte, damit diese ihre Energierechnung bezahlen können. Wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen im kommenden Frühjahr sind steigende Energiepreise ein heikles Thema für die Regierung von Präsident Emmanuel Macron. Deshalb wurden die bereits bestehenden „Energieschecks“ ausgeweitet, um die Kaufkraft der Franzosen zu erhalten. Auch eine Senkung der Elektrizitätssteuer schließt Finanzminister Bruno Le Maire nicht aus.

Und wenn das alles nicht hilft? Dann bleibt den Europäern die Hoffnung auf gutes Wetter. Didier Holleaux vom französischen Energiekonzern Engie sagte diese Woche auf dem Energiekongress Gastech: „Wir hoffen, der Winteranfang wird nicht zu kalt sein in der nördlichen Hemisphäre. Sonst sind wir in Schwierigkeiten.“ Nicole Bastian, Eva Fischer, Tanja Kuchenbecker, Sandra Louven, Christian Wermke

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223 Prozent beträgt die Preissteigerung für Gas in Europa seit Jahresbeginn. Quelle: Bloomberg

Handelsblatt

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