Ökostrom-Paradoxon. Ein schneller Ökostromausbau benötigt mehr Gas. Doch Speicher sind leer und die Bezugsquellen unsicher.
Eines hat die Energiekrise im Gefolge des russischen Überfalls auf die Ukraine schon bewirkt: In Sachen Energiewende beginnt eine realistische Sichtweise die ideologische zu verdrängen. Letztere ließ sich, vor allem in der deutschen, aber auch in der österreichischen Variante, so kurz zusammenfassen: Wir bauen erneuerbare Energieträger massiv aus, drehen aber schon vorher alles, was fossil oder nach Kernkraft aussieht, rigoros ab. Und schon ist beispielsweise die Stromerzeugung bis 2030 CO2-neutral.
Ein nettes Konzept mit einem klitzekleinen Schönheitsfehler: Dafür müsste die Physik der Politik folgen, und nicht umgekehrt beziehungsweise müssten Wind und Sonne immer dann zur Verfügung stehen, wenn man sie gerade braucht. Ein sicheres Rezept für den Energiekollaps also.
Jetzt kehrt, wenn auch widerwillig, mehr Realitätssinn ein. In Deutschland hat sich der grüne Energieminister, Robert Habeck, zähneknirschend dafür ausgesprochen, Kohlekraftwerke weiterlaufen zu lassen, sollte Erdgas knapp werden. Und in Österreich will Energieministerin Leonore Gewessler jetzt eine strategische Gasreserve aufbauen. Auch wenn man natürlich weiter den ehestmöglichen Ausstieg aus dem fossilen Energieträger anstrebt.
Wobei sich „ehestmöglich“ als reichlich dehnbarer Begriff herausstellen wird. Die deutsche Energiewende beispielsweise ist, auch wenn das bisher erfolgreich ausgeblendet wurde, vollkommen gasgetrieben: Je schneller Sonnen- und Windstromkapazitäten ausgebaut werden, desto mehr Gas benötigt man (bei gleichzeitiger Abschaltung der Kern- und Kohlekraftwerke) für die Herstellung der notwendigen Ausgleichskapazitäten für den unregelmäßig fließenden grünen Flatterstrom. Zumindest so lang, bis ausreichend Alternativen — etwa Wasserstoff oder andere Speichermöglichkeiten — zur Verfügung stehen. Also wohl mindestens zehn Jahre lang.
Die aktuellen Ausbaupläne allein würden zusätzlich 20 bis 50 neue Gaskraftwerke bis 2030 benötigen, haben mehrere Wirtschaftsforschungsinstitute, darunter auch die ökofreundliche Agora Energiewende, vorgerechnet. Und natürlich die entsprechenden Gasmengen. Die hätte Nord Stream 2 liefern sollen. Diese fertige Pipeline ist jetzt aber angesichts der russischen Vorgehensweise Geschichte.
Wenn, was durchaus wünschenswert ist, die Ausbaupläne für Alternativenergien jetzt stark beschleunigt werden, wird es also selbst dann eine beträchtliche Lücke bei den benötigten Gasmengen geben, wenn Russland weiter seine Lieferverpflichtungen erfüllt.
Die Energiewende wird also paradoxerweise in den nächsten Jahren zu einer (hoffentlich vorübergehenden) Steigerung des CO2-Ausstoßes führen. Denn die Gas-Alternative heißt in Deutschland Kohle. Diese Woche hat der größte deutsche Stromkonzern, RWE, angekündigt, dass er einige schon geschlossene beziehungsweise zur Schließung vorgesehene Kohlekraftwerke „in Reserve“ halten wird. Darunter ein Braunkohlekraftwerk — die wohl klimaschädlichste Art, Strom zu erzeugen.
In Österreich, das ja noch viel stärker von russischem Gas abhängig ist, heißt die Alternative noch mehr Import von Kohle- beziehungsweise Atomstrom. Denn auch hier setzt man richtigerweise auf einen starken Ausbau von Sonnen- und Windstromkapazitäten, aber auch hier muss man von der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen langsam wegkommen.
Wobei die derzeit vorliegenden politischen Konzepte durchaus kabarettistische Züge aufweisen: Fragt man, wie Hunderttausende Einzelgasheizungen in Wiener Haushalten ersetzt werden sollen, bekommt man normalerweise zur Antwort: Wärmepumpen (also Strom) und Fernwärme.
Schaut man in die Bilanzen der Wien-Energie, dann sieht man, dass mehr als 80 Prozent des in Wien erzeugten Stroms aus Gaskraftwerken und knapp 60 Prozent der Fernwärme aus Kraft-Wärme-Kopplungen in — richtig — Gaskraftwerken kommen. Und der Rest der Fernwärme zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Fernheizwerken, die mit Gas und Schweröl betrieben werden.
Das Ganze ist zwar ungleich effizienter als Einzelheizungen, aber im Prinzip eben trotzdem der Ersatz von Gasheizungen durch eine Gasheizung.
Es wird also wohl nichts übrig bleiben, als zu hoffen, dass Russland in seinem Devisenhunger die Gaslieferungen noch länger nicht kappt. Und man muss zwecks Bezugsquellendiversifizierung andere Gasquellen auftun. Wobei es sich wohl überwiegend um LNG, also verflüssigtes Erdgas, handeln wird. Auf diesem Markt sind aber, wie der Brüsseler Thinktank Bruegel vor Kurzem in einem Blogeintrag feststellte, die benötigten Mengen nicht so einfach aufzutreiben.
Sollte Russland tatsächlich den Gashahn zudrehen, dann wird es in Westeuropa im kommenden Winter jedenfalls finster: Die derzeit ziemlich leeren Gasspreicher reichen laut Bruegel höchstens noch bis zum Sommer. Solang, wie jetzt, sogar noch mehr Gas durch die russischen Pipelines fließt als vor dem Krieg, werde es also darauf ankommen, die leeren Speicher — EU-weit sind sie zu 30 Prozent gefüllt, in Österreich nur zu 17 Prozent — möglichst schnell aufzufüllen. Und das wird, so die Brüsseler Vordenker, wohl eine staatliche Aufgabe. Denn die Preise sind explodiert.
Derzeit müssten die EU-Länder für die Füllung ihrer Speicher mehr als 70 Mrd. Euro zahlen — sechsmal so viel, wie das vor dem Gaspreisschock gekostet hätte. Es werden sich wohl keine privaten Betreiber finden, die solche Mengen zu Höchstpreisen einlagern. Mit dem Risiko, dass der Preis im nächsten Winter, wenn das Gas abgerufen wird, wieder deutlich gefallen ist. Und sie dann absehbar auf Milliardenverlusten sitzen.
Aber das ist der Preis, der kurzfristig für die Versorgungssicherheit der Bevölkerung und mittelfristig für die Energiewende in einer Übergangszeit zu bezahlen ist. Hoffentlich setzt sich der realistischere Blick auf die Energiewende jetzt auch in Mitteleuropa auf politischer Ebene besser durch, damit sie zumindest mittelfristig auch den erwünschten Erfolg zeitigt — ohne den Wohlstand durch leichtsinnig herbeigeführte Energieverknappung zu gefährden. Die Erkenntnis, dass „Gas geben“ beim Ökostromausbau für eine längere Übergangszeit durchaus wörtlich zu nehmen ist (wenn die Energiewende nicht mit noch mehr CO2-Ausstoß verbunden sein soll), gehört auch dazu.
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Die Presse