Bei einem Lieferstopp von Gas aus Russland könnte der Staat die Gasreserven der Industriebetriebe beschlagnahmen.
Kein Embargo für russisches Gas lautet die offizielle österreichische Haltung. „Die Ansage ist politisch nicht unproblematisch“, sagt Siegfried Menz, Obmann der Bundessparte Industrie in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ). Wo angesichts der mutmaßlichen Kriegsverbrechen russischer Soldaten gegenüber ukrainischen Zivilisten in Butscha eine rote Linie gezogen und doch mit einem Embargo reagiert werden soll, darauf wusste Menz am Dienstag in einer Pressekonferenz aber keine Antwort.
Was die Industrie jetzt brauche, sei mehr Klarheit in Bezug auf den „Notfallplan Gas“, dessen erste Stufe, die Frühwarnstufe, die Regierung vergangene Woche aktiviert hatte. „Es ist höchste Zeit, die Stufen zwei und drei vorzubereiten“, forderten Menz und Andreas Mörk, Industriespartengeschäftsführer der WKO.
Schwarzes Szenario
Bis zur letzten Stufe bleibt die Gasversorgung der Haushalte und kritischer Infrastruktur unangetastet, jene der Industrie wird aber nach Prioritäten abgedreht. Die Gasreserven der Industriebetriebe können im Notfall sogar verstaatlicht werden. Merz und Mörk forderten am Dienstag einen rechtlichen Rahmen für Entschädigungen, sollte es zu Beschlagnahmungen kommen.
Für die heimische Industrie wäre das Szenario eines Gaslieferstopps, nach welchem die Versorgung für fünf bis sechs Wochen reichen würde, ein düsteres: In der Stahlindustrie, bei der Herstellung von Glas und in Gießereien käme es zu einem Komplettausfall der Schmelzprozesse und millionenteure Schäden an den Produktionsanlagen, warnten die Branchenvertreter. Die Herstellung von pharmazeutischen Produkten würde zum Stillstand kommen, in der Halbleiterproduktion sowie bei der Herstellung von Hygieneprodukten und Verpackungen würden irreparable Schäden an den Anlagen entstehen, die ein Wiederhochfahren in kurzer Zeit nicht möglich machen würden. Außerdem würden zahlreiche Fernwärmesysteme zur regionalen Versorgung von Haushalten zusammenbrechen. Kurzfristige Alternativen für den Ausfall russischer Importe seien nicht verfügbar, so die WKO. „Es ist Aufgabe der Politik und der Versorger, intensiv nach möglichen Ersatzlieferungen für den Notfall zu suchen,“ forderten die Industrie-Sprecher.
Österreich muss dabei EU-weite Lösungen für Alternativen nutzen. Man wolle allerdings bald wissen, „wo die 1600 Quadratkilometer Photovoltaikanlagen, die 6000 Windräder und 110 Wasserkraftwerke stehen sollen“, forderte Menz. Dafür seien in den kommenden zehn Jahren 43 Milliarden Euro erforderlich. Einmal mehr forderten sie die Beschleunigung von Umweltverträglichkeitsprüfungsverfahren.
Preissteigerungen
Derzeit sind die Auftragsbücher der heimischen Industriebetriebe, die 454.5000 Menschen beschäftigen, voll. Auch 2021 verzeichneten sie mit mehr als 200 Milliarden Euro Produktionswert ein erfolgreiches Jahr. Das sei aber kein nachhaltiges Wachstum, sagte Andreas Mörk, da es den Preissteigerungen im Gasbereich geschuldet sei. 19 Prozent des Produktionswertes entfielen allein auf die Fachverbände Gas/Wärme, auf die in normalen Jahren lediglich elf Prozent entfielen. Positiv entwickelt haben sich im Vorjahr die Bereiche Bau, Stein/Keramik und Holz. Die Bereiche Glas, Fahrzeugindustrie sowie Textil/Bekleidung/Leder verzeichneten eine negative Entwicklung. Nicht nur der Gaspreis, der im April 466 Prozent teurer war als im Vergleichzeitraum 2021, macht der Industrie zu schaffen. Auch andere Vorprodukte und Rohstoffe wurden teurer, was die Margen und Liquidität drücke. Die Betriebe melden vermehrt Kurzarbeit an, so Mörk.
von Marijana Miljković
Wiener Zeitung