Nun will auch der Osten grün werden

25. Jänner 2023, Wien

Energiewende. In den Visegrád-Staaten Tschechien, Slowakei und Ungarn bedroht der Green Deal wichtige Industriesektoren. Doch die Energiewende gewinnt an Fahrt.

Auch wenn vor allem Polen und die Slowakei in den vergangenen Jahren etwas aufgeholt haben, gehören die Visegrád-Staaten — neben den genannten sind das noch Ungarn und Tschechien — nicht zu den Vorreitern der grünen Wende in Europa. Wobei der Ukraine-Krieg dem Ausbau erneuerbarer Energieträger in den vier osteuropäischen EU-Ländern einen Schub verleihen dürfte, wie ein neues Policy Paper des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) zeigt.

So sei es besonders auch dem vergleichsweise niedrigen Preis fossiler Brennstoffe geschuldet gewesen, dass jene bisher einen beträchtlichen Anteil im Energiemix der Visegrád-Staaten ausmachten. In Ungarn wurden 2020 etwa 26 Prozent des Stroms aus Gas erzeugt, in Tschechien 40 Prozent aus Kohle — und in Polen sogar fast 70 Prozent aus Kohle. „Die Visegrád-Staaten wollen energieunabhängig sein und die Lebenshaltungskosten der Menschen möglichst niedrig halten. Spätestens seit dem Ukraine-Krieg und der Klarheit, dass es kein Zurück zu billigem Gas gibt, ist die Energiewende deshalb in ihrem Interesse“, erklärt Tobias Riepl von der Central European University (CEU), der an der Publikation mitgewirkt hat, der „Presse“.

Das WIIW-Papier beleuchtet vor allem die Herausforderungen, die die vier Staaten im Zusammenhang mit der grünen Wende bewältigen müssen. Und dazu gehört, dass die große Abhängigkeit etwa Polens von klimaschädlicher Kohle auch impliziert, dass mit dem Aus des Energieträgers auch Tausende Arbeitsplätze verschwinden könnten. So beschäftigt in Polen der Kohlebergbau allein rund 90.000 Menschen. In den dazugehörenden Industrien sind noch einmal bis zu viermal so viele Beschäftigte indirekt vom Kohleabbau abhängig. „Kohle auslaufen zu lassen, ohne dabei massenhaft Jobs zu vernichten, ist keine einfache Aufgabe“, sagt Riepl.

Autosektor muss umdenken

Und noch ein zweiter Sektor, der mit dem europäischen Green Deal zu einem grundlegenden Wandel gezwungen wird, spielt in den Visegrád-Staaten eine volkswirtschaftlich wichtige Rolle: der Automobilsektor. Das Ende des Verbrennungsmotors bedeutet auch das Ende des business as usual in der Visegrád-Industrie, die mit fast drei Millionen jährlich produzierten Autos für ein Viertel der gesamten Autoproduktion der EU steht. Weil die Lieferketten in der Herstellung von Verbrennern nur bedingt deckungsgleich sind mit jenen in der Herstellung von E-Autos, dürfe man nicht annehmen, dass die Region ohne entsprechende Maßnahmen ihre Wettbewerbsvorteile im Automobilsektor behalten wird. Entscheidend sei, ob die internationalen Konzerne, die in der Visegrád-Region produzieren, auch in die E-Auto-Produktion vor Ort investieren. So wie es etwa der schwedische Autobauer Volvo in der Slowakei tut.

Damit die Energiewende in den Visegrád-Staaten vergleichsweise rasch und mit geringen — oder idealiter: ohne — soziale Verwerfungen passieren kann, ist laut dem WIIW der Ausbau erneuerbarer Energiequellen zentral. Auch wenn mit Ausnahme Polens die emissionsarme Kernenergie bereits einen beträchtlichen Teil des Energiemix ausmacht. „Für die Energiewende ist es entscheidend, dass nicht nur einzelne, sondern sämtliche erneuerbaren Energieträger ausgebaut werden. Hier haben alle vier Länder Nachholbedarf“, sagt CEU-Experte Riepl.

Das Momentum nutzen

Als weiteren Sektor mit Aufholbedarf ortet das WIIW den Gebäudesektor. In diesem Bereich habe man Themen wie Wärmepumpen und Energieeffizienz vernachlässigt. Und hier böten sich auch Geschäftschancen für österreichische Unternehmen, die entsprechendes Know-how haben. In den Visegrád-Staaten gebe es nämlich Mangel an solchen Firmen.

Und zuletzt mahnt das WIIW auch dazu, das politische Momentum für die Energiewende zu nutzen, das die russische Invasion in der Ukraine ausgelöst hat. In den Visegrád-Staaten herrschte bis dato ein im EU-Vergleich geringeres Problembewusstsein in Bezug auf die Klimakrise.

von Aloysius Widmann

Die Presse

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