Die neue Hoffnung auf Atomkraft

21. Mai 2024

Mit Bauverzögerungen und Kostenexplosionen geht in Frankreich das erste Atomkraftwerk seit 20 Jahren ans Netz. Der Reaktor von Flamanville ist erst der Anfang des französischen Nuklearschubs.

Die Nuklearbranche atmet hörbar auf. Die französische Atomsicherheitsbehörde ASN hat die Inbetriebnahme des Druckwasserreaktors von Flamanville (Normandie) abgesegnet. Geschlagene 17 Jahre hatte der pharaonische Bau gedauert. Die stolzen französischen Nuklearingenieure, Herren über einen AKW-Park von 56 Reaktoren, mussten einsehen, dass sie nach zwanzig Jahren Unterbrechung das Know-how für den Bau neuer Meiler verloren hatten. Fragile Schweißnähte, Risse im Beton und gar undichte Stellen in der Reaktorhülle riefen die ASN immer wieder auf den Plan. Schließlich kostete der Bau laut dem französischen Rechnungshof 19,2 Milliarden Euro – fünfmal mehr als veranschlagt. Seriöse Planung geht anders.

Emmanuel Macron dürfte elegant darüber hinweggehen, wenn er den Druckwasserreaktor am Donnerstag im Beisein der nationalen Atomindustrie einweihen wird, den größten Reaktor Frankreichs. Der Vorsteher der umliegenden Region Cotentin ergänzte, hier sei „der Ort des glücklichen, nicht des schändlichen Atoms“. Mit einer Leistung von 1600 Megawatt soll er zwei Millionen Menschen mit Strom beliefern. Und die Nachfolgeprojekte warten in der Schublade: Macron hatte schon 2022 angekündigt, dass er bis 2035 sechs weitere Meiler des Typs EPR 2 bauen will; acht zusätzliche Meiler behält er als Option.

Der französische Präsident plädiert heute für einen Mix aus Atom und erneuerbaren Energien. Am Mittwoch reiste er als Erstes nach Fécamp, ebenfalls am Ärmelkanal gelegen, um den dritten Offshore-Park Frankreichs mit 71 Windmasten und einer Leistung von 500 Megawatt einzuweihen. Sie sollen 800.000 Stromkunden zugutekommen, wie am Dienstag im Élysée-Palast zu erfahren war. Insgesamt seien in Frankreich bis zu 50 Windparks geplant.

Lokaler Widerstand

Viele stoßen allerdings auf lokalpolitische Widerstände. Auch deshalb erhält der versprochene Energiemix eine klare atomare Schlagseite. Macrons Vorgänger François Hollande hatte noch versprochen, den Atomstromanteil an der nationalen Produktion von 75 auf 50 Prozent zu senken. Deshalb beschloss er auch die Stilllegung des dienstältesten Atomkraftwerkes Fessenheim (Elsass).

Macron setzte diesen Entscheid in die Tat um, womit er die Grünen besänftigte. Der Atomstromanteil ist in Frankreich folgerichtig gesunken, aber nur auf 64,8 Prozent. Denn die Staatsführung Paris fördert nicht nur den EPR-Bau, sondern lässt zur Überbrückung auch die Laufzeit der heutigen Reaktoren auf 60 Jahre verlängern. Zudem fördert sie die Technologie der Kleinreaktoren SMR (Small Modular Reactors).

Die AKW-Betreiberin Électricité de France (EDF) hat er vollumfänglich verstaatlicht, die beiden Atomaufsichtsbehörden zusammengelegt. Auch die Genehmigungsverfahren für AKWs lässt er verkürzen. Ende 2023 hat das Verfassungsgericht zudem die lokal sehr umstrittene Endlagerung in Bure (Lothringen) gutgeheißen.

Dies alles lässt darauf schließen, dass der französische Energiemix langfristig eher bei zwei Dritteln Atom und einem Drittel Erneuerbaren liegen wird. Der Vorrang des „nucléaire“ beruht auf einem politischen Konsens, dem sich fast nur die Grünen verweigern. Macron sagt heute, der Energiemix sei letztlich sekundär; wichtig sei, dass die beiden CO₂-freien Stromquellen Atom und Erneuerbare Frankreich zur Klimaneutralität verhälfen.

Auch wenn der französische Atomkurs politisch breit abgestützt bleibt, macht sich in der Bevölkerung immer mehr spürbare Ernüchterung breit. Die gestiegenen Energiepreise zeigen ganz klar auf, dass die Ära des billigen Atomstromes vorbei ist.

Hohe Kosten

In die gleiche Richtung weisen die hohen EPR-Kosten, und zwar nicht nur in Flamanville. Der bisher einzige europäische Druckwasserreaktor in Olkiluoto (Finnland) verteuerte sich um den Faktor drei, der in Bau befindliche EPR in Hinkley Point (Großbritannien) dürfte doppelt so teuer ausfallen wie geplant. Die AKW-Befürworter verlieren damit mehr und mehr das Preisargument. Die Versorgungssicherheit ist auch nicht mehr gegeben, droht doch Frankreich aus geopolitischen Gründen seine zwei wichtigsten Uran-Lieferanten Kasachstan und Niger zu verlieren.

Bleibt das zentrale Argument der Klimaschonung, das Macron vorab gegenüber deutschen Einwänden vorbringt. Bei der COP 28 in Dubai hatte er Ende letzten Jahres betont, der planetare Temperaturanstieg werde sich realistischerweise nur meistern lassen, wenn die Atomenergie weltweit ausgebaut werde und die Kohleenergie ersetze. Darin war er sich mit dem US-amerikanischen Klimaemissär John Kerry einig.

Der Standard

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