Am Strommarkt bleibt nichts, wie es ist

11. Oktober 2024

Laut Boston Consulting werden Fixkosten dominieren, Strompreise öfter nahe null, Preise im Winter deutlich höher und das ganze Jahr hindurch volatiler sein.

Die Liberalisierung der Strommärkte vor mehr als 20 Jahren war die erste Zäsur in einer bis dorthin recht beschaulichen Stromwelt. Jetzt steht der zweite Einschnitt an, der noch dazu viel tiefer geht und wohl keinen Stein auf dem anderen lässt. Teilweise stecken wir schon mittendrin im Umbau von fossiler Stromerzeugung hin zu mehr und mehr Erneuerbaren, die hohe Fix-, aber kaum variable Kosten haben.

Das Beratungsunternehmen Boston Consulting Group (BCG) hat in einer Studie fünf treibende Kräfte identifiziert, die das Zusammenwirken der Stromwirtschaft maßgeblich beeinflussen werden. Angesehen haben sich die Studienautoren und -autorinnen dabei die Entwicklung der Energiemärkte Nordwesteuropas mit speziellem Augenmerk auf Deutschland, die Niederlande, Dänemark und Großbritannien.

Erneuerbaren-Anteil

„Die Ergebnisse sind, wenn auch nicht eins zu eins, so doch in Teilen auch auf Österreich umlegbar“, sagte Zsófia Beck, geschäftsführende BCG-Partnerin in Budapest und eine der Autorinnen von The Five Forces Transforming Power Markets. Das Thema Atomkraft beispielsweise, das in anderen Ländern eine Rolle spiele, habe in Österreich seit der Volksabstimmung im November 1978 und dem mehrheitlichen Votum dagegen keine Bedeutung mehr. „Dafür ist Österreich deutlich weiter beim Ausbau erneuerbarer Energien als andere Länder“, sagte Beck zum STANDARD.

Was sind nun die fünf maßgeblichen Kräfte, die die Strommärkte so stark verändern werden? Da wäre zum einen der starke Fixkostenüberhang, der mehr und mehr zum Tragen komme. Durch den forcierten Ausbau erneuerbarer Energien werde sich die Stromerzeugung zunehmend weg von variablen hin zu fixen Kosten verlagern. So könnten bis zu 85 oder 90 Prozent der gesamten Erzeugungskosten künftig fix sein, verglichen mit 65 bis 70 Prozent heutzutage. Warum? Weil Windkraft- und Solaranlagen im Gegensatz zu Kohle- oder Gaskraftwerken im Betrieb, von Wartungsarbeiten einmal abgesehen, keine Kosten verursachen. Wind und Sonne gibt es gratis, Kohle und Gas nicht.
Das führt dazu, dass Strom häufiger kostenlos sein wird, als dies jetzt schon der Fall ist. Beck: „Je höher der Anteil erneuerbarer Energien am Strommix, desto häufiger werden Phasen mit sehr niedrigen oder sogar negativen Strompreisen auftreten.“

In Zeiten hoher Stromnachfrage wird auch das Preisniveau ein Stück höher sein. Doch auch hier gibt es Widersprüche. Obwohl erneuerbare Energien zunehmend den Preis bestimmen, werden thermische Kraftwerke in Zeiten hoher Nachfrage weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Die Einnahmen in den wenigen Stunden, in denen diese Kraftwerke laufen, reichten aber oft nicht aus, um die Fixkosten zu decken. Deutlich größer dürften die Preisunterschiede zwischen Sommer und Winter werden. Im Jahr 2050, wenn die EU-Staaten durch die Bank klimaneutral sein wollen und entsprechend viel Erneuerbare im Netz sein sollen, könnten die Strompreise im Winter bei geringer Wasserführung und naturgemäß niedriger Stromerzeugung an Solaranlagen laut der Studie um 40 bis 100 Prozent höher liegen als im Rest des Jahres. Österreich will bekanntlich bereits zehn Jahre früher, im Jahr 2040, klimaneutral sein.

Politik am Zug

Die fünfte Kraft, die auf die Energielandschaft einwirken wird, ist ein noch höheres Maß an Preisvolatilität, als wir das jetzt schon beobachten können. Die erhöhten Schwankungen der Strompreise, die sowohl zeitlich als auch regional unterschiedlich ausfallen könnten, seien der Preis, der aufgrund des verstärkten Einsatzes von Solar- und Windenergie absehbar zu zahlen ist.

Die Studie und die darin aufgezeigten Entwicklungen beruhen auf zwei Annahmen: dass die EU-Staaten das von der Kommission aufgelegte „Fit for 55“-Programm umsetzen, mit dem die Nettoemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 2021 gesenkt werden sollen, und dass das Nettonull-Ziel bis 2050 bei den CO₂-Emissionen ebenfalls zielstrebig angesteuert wird. Die Marktkräfte auszubalancieren sei eine der Aufgaben der Politik.

Der Standard