Wer hat recht in der Atomdebatte?

31. Dezember 2021


In Deutschland gehen zum Jahresende drei der letzten sechs Atomkraftwerke vom Netz. Frankreich ruft hingegen das Comeback der Kernenergie aus. Welche Nation ist der energiepolitische Geisterfahrer?

Als nur noch die Schreie eines Krähenschwarms an diesem eisigen Nachmittag die Stille zerreißen, erscheint die Friedhofsstimmung perfekt. Plötzlich öffnet sich der Dezembernebel, die zarten Umrisse eines Kühlturms erscheinen. „Das ist der Kühlturm von Block C, der einzige noch aktive“, schwäbelt Daniel Spannbauer und wirkt zufrieden.
Vor dem Treffen am Atomkraftwerk Gundremmingen hat der 45-Jährige vom Pro-Atomkraft-Verein Nuklearia noch einen Landschaftskalender mit Motiven des AKWs im „Dorflädle“ gekauft. Durch das Kraftwerk im bayerischen Landkreis Günzburg, „das so sicher und sauber ist, dass man vom Boden essen kann“, hat er sich oft führen lassen.
Der gelernte Konstruktionsmechaniker hat schon vor allen der sechs noch aktiven AKWs in Deutschland demonstriert. Wohlgemerkt: für die Atomkraft, laut Spannbauer „die stärkste Waffe gegen den Klimawandel“. Spannbauer, grau-blauer Anorak und Jeans, deutet in den Nebel. „Block C ist schon am Runterfahren, es dampft kaum mehr.“ Am 31. Dezember spätabends „ist es dann so weit“, sagt Spannbauer und wendet sich ab.


Ist Deutschland der Geisterfahrer in der Atomdebatte?
Dann werden neben Gundremmingen auch die AKWs Grohnde und Brokdorf vom Netz gehen. Spätestens Ende 2022 folgen mit Isar 2, Emsland und Neckarwestheim die letzten drei deutschen Kernkraftwerke und markieren das Ende einer Ära, über die der damalige Atomminister Sigfried Balke 1961 sagte: Ohne Kernkraftwerke „werden wir eines Tages auch keine Staubsauger mehr verkaufen können“.


Das sagt heute zwar keiner mehr, aber trotz Reaktorunglücken von Tschernobyl und Fukushima hat die Kernenergie weiter einflussreiche Befürworter, auch in Deutschland. Ihr Hauptargument ist der niedrige CO2 – Ausstoß der AKWs – obgleich die Urangewinnung viel CO2 verursacht.


Die verbliebenen deutschen Atom-Aficionados sehen die Bundesrepublik auf einem energiepolitischen Irrweg. Ihr gelobtes Land liegt jenseits des Rheins: Im Oktober versprach Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Bau einer neuen Generation von Atomkraftwerken, „um Kohlenstoffneutralität im Jahr 2050 zu erreichen“. Eine Milliarde Euro will Macron insbesondere in den Bau neuartiger, modularer Minireaktoren investieren, in „Small Modular Reactors“ (SMR). Auch Großbritannien will noch vor den Wahlen 2024 ein neues Atomkraftwerk finanzieren, in Rumänien soll bis 2028 ein SMR ans Netz gehen – und Microsoft-Gründer Bill Gates will mit sogenannten Laufwellenreaktoren Kohlekraftwerke ersetzen.


Ist Deutschland womöglich tatsächlich der Geisterfahrer in der Atomdebatte? Erlebt die Atomkraft dank neuer Reaktorkonzepte ein Revival, während bei uns die letzten Meiler vom Netz gehen? Und wenn neue AKW-Typen tatsächlich, wie vielfach gepriesen, schnell, sicherer und günstig gebaut werden und künftig sogar Atommüll recyceln könnten, sollte Deutschland sein Nein zur Kernenergie nicht noch einmal überdenken?

Troels Schönfeldt balanciert einen weißlichen Stein zwischen Zeigefinger und Daumen, „der ist auch gut für die Spiritualität“, lächelt er. Der 40-Jährige mit dem blondem Vollbart und dem dunklen Hoodie ist promovierter Nuklearphysiker und CEO des dänischen Atom-Start-ups Seaborg mit rund 80 Mitarbeitern.
Aufgewachsen mit „Anti-Atomkraft-Postern“ will Schönfeldt nach eigenem Bekunden abgelegene Regionen in Südostasien von Kohlekraft befreien, um sie mit „sauberem“ und „billigem“ Atomstrom zu versorgen. Schon bis 2026 soll ein erster kleiner Salzschmelzreaktor (Molten-Salt: MSR) in Betrieb sein. Auf Trägerschiffen sollen Seaborgs MSR, klein genug für einen 20-Fuß-Container, die Gebiete ansteuern, wo erneuerbare Energien unrentabel seien.
Vorteil der MSR gegenüber heutigen Atomkraftwerken: Die neuen Reaktoren seien flexibel auf- und abbaubar und viel sicherer. In MSRs, in denen sich das spaltbare Material in einem Kreislauf aus geschmolzenem Salz bewegt, seien Kernschmelzen wie in Fukushima nicht möglich, sagt Schönfeldt: „Selbst wenn eine Bombe im Reaktor detonieren würde, gäbe es keine Nuklearkatastrophe, da das geschmolzene Salz erhärtet, sobald es austritt.“ Genau wie der Stein in Schönfeldts Hand.


Wie rentabel sind die neuartigen Minireaktoren?
Künftig will Seaborg sogar Atommüll anderer Reaktoren recyceln, die Technologie sei vorhanden, sagt Schönfeldt. 30 Millionen Euro haben die Dänen bislang eingesammelt. Auch vom Berliner Delivery-Hero-Mitgründer Lukasz Gadowski. Für einen ersten Reaktor brauche Seaborg aber „noch ein paar 100 Millionen Euro“ – und einen Kunden. „Noch sind wir nicht annähernd da“, räumt Schönfeldt ein, und für das Recycling von Atommüll fehlten sicher „noch Dekaden“.
Das glaubt auch Matthias Englert, Experte für Nukleartechnik und Anlagensicherheit beim Ökoinstitut: „Aktuelle Atom-Start-ups mit Konzepten aus den 60er- oder 70er-Jahren sammeln Gelder unter 100 Millionen Euro ein, meist aus staatlichen Töpfen, machen kleine Tests, natürlich ohne radioaktives Material, weil es sonst richtig teuer würde, und dann passiert erst einmal nichts mehr.“


Um abzuschätzen, ob Labor-Technologien wie die von Seaborg auch im großen Maßstab und kommerziell funktionierten, seien Versuchsanlagen erforderlich. „Dann ist man schnell im Milliardenbereich. Kaum ein privater Geldgeber wird für eine Technologie, die man noch nicht beherrscht, so viel ausgeben“, so Englert. Auch die vier Milliarden Dollar für Gates‘ Minireaktor trägt zur Hälfte der US-Staat. Zudem seien gefährliche Störfälle genauso möglich, würden etwa bei einer Explosion Salzschmelzpartikel verteilt. Auch könnten „Spaltprodukte aus der Salzschmelze ausgasen“. Bisherige Experimente mit Salzschmelzreaktoren hätten reichlich Probleme offenbart, etwa dass die heißen, radioaktiven Salze Teile des Reaktors beschädigten.


Unter den im Bundestag vertretenen Parteien ist die AfD die einzige, die für eine weitere Nutzung der Kernenergie in Deutschland eintritt. Das macht sie für viele in der Pro-Atom-Bewegung attraktiv. Götz Ruprecht ist noch bis Jahresende wissenschaftlicher Referent der AfD-Bundestagsfraktion und zugleich CEO des deutsch-kanadischen Start-ups Dual Fluid, das an einem Metallschmelze-Reaktor arbeitet. Für ihn sind die Materialfragen zwar „prinzipiell geklärt“. Um sich von einem „bloßen Papierreaktor“ abzuheben, fehlten laut Englert aber seriöse Machbarkeitsstudien. Dasselbe gelte für Atommüll-Recycling. Auch sei fraglich, ob kaum erprobte SMR vor 2040 am Markt wären, so Englert.
Zu dem Schluss kommt auch der internationale Wissenschaftlerzusammenschluss Scientists for Future (S4F), der zu Nachhaltigkeitsthemen forscht: SMR benötigten noch Jahrzehnte für eine mögliche Kommerzialisierung. Diese könnten daher für das Erreichen der Klimaziele „keinen wesentlichen Beitrag leisten“. Genauso wenig wie konventionelle AKWs, für deren Neubau man laut Experten 15 Jahre einkalkulieren muss.

Obgleich sie wegen ihrer Größe und Modularität billiger sein sollen, sieht ein vom Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) in Auftrag gegebenes Gutachten „SMR gegenüber anderen Energietechnologien wirtschaftlich weit unterlegen“. Die Baukosten für einen Minireaktor liegen laut Schätzungen bei mindestens einer Milliarde Euro.


Doch SMR kommen anders als konventionelle AKWs mit ihren 1000 bis 1600 Megawatt (MW) nur auf eine Leistung von 300 MW. Wegen der niedrigen elektrischen Leistung sind die „spezifischen Baukosten durch den Verlust der Skaleneffekte“ sogar höher als bei großen AKWs, so die BASE-Studienautoren. Es müssten „im Mittel dreitausend SMR“ gebaut werden, bevor sich die Produktion lohne. Um die heute gut 400 Reaktoren weltweit zu ersetzen, bräuchte es „viele Tausend bis Zehntausend SMR-Anlagen“. Das sei für private Investoren „uninteressant“, zumal auch noch die komplexe Regulierung dazukomme, sagt Ben Wealer, Energiewirtschaftsexperte der TU Berlin.


Wealer hat sowohl für das BASE-Gutachten als auch für eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) die Wirtschaftlichkeit von Atomkraft untersucht. Das Fazit: Keines der zwischen 1951 und 2017 gebauten 674 AKWs entstand „unter wettbewerblichen Bedingungen“. Die kommerzielle Nutzung von Kernenergie war Nebenprodukt militärischer Entwicklungen und schaffte „nie den Sprung zu einer wettbewerbsfähigen Energiequelle“.
Wo privates Kapital floss, reizten es hohe Subventionen an. Das gilt auch für den Bau der wenigen SMR. So habe der russische Minireaktor „Akademik Lomonossov“, der in der Ostsibirischen See schwimmt, bei viel geringerer Leistung so viel gekostet wie ein großes AKW, sagt Wealer. „Ohne Geld vom Staat baut den niemand.“ Laut der DIW-Studie war und bleibt Atomkraft daher „privatwirtschaftlich unrentabel“.


Doch könnten Laufzeitverlängerungen bestehender Reaktoren, wie der Nuklearia-Vertreter Spannbauer glaubt, zumindest in der Übergangszeit helfen, erneuerbare Energien klimafreundlich zu ergänzen? Folgt man den DIW-Autoren und dem S4F-Papier, sind auch Verlängerungen unwirtschaftlich da mit „erheblichen technischen Nachrüstungen“ verbunden. Auch bestehe das Risiko, dass ein AKW wegen Verlusten trotzdem vorzeitig vom Netz müsse, wie mehrfach in den USA geschehen.

Konkret beschreibt die Mehrkosten der französische Rechnungshof und kritisch gegenüber Macrons Atomplänen. Demnach müsste der französische Betreiber EDF bis 2030 um die 100 Milliarden Euro ausgeben, um die Lebensdauer seiner Reaktorflotte um zehn Jahre zu verlängern. Das wäre mehr als der dreifache Börsenwert von EDF, und im Schnitt wären es 1,7 Milliarden Euro pro Reaktor oder rund 55 Dollar pro Megawattstunde (MWh).


Zum Vergleich: Der Neubau Photovoltaik (PV) würde laut Wealer aktuell zwischen 29 bis 42 Euro pro MWh kosten und von Windkraft zwischen 26 bis 54 Euro pro MWh. Das wäre schon jetzt etwas günstiger, „somit hätten Laufzeitverlängerungen gegenüber dem Zubau Erneuerbarer keinen wirtschaftlichen Vorteil“. Ein neues AKW würde gar zwischen 130 bis fast 200 Euro pro MWh verschlingen.


Kernkraft ist auch deshalb so teuer, weil die Betriebskosten mit dem Alter überproportional steigen. Als Gründe nennen die S4F „Fehleranfälligkeit, Wartungskosten und Ausfallzeiten“. Bereits 2017 waren laut einer MIT-Studie in den USA 35 Kernkraftwerke unrentabel, die Betreiber mussten zwischen 2009 und 2021 zwölf Kernkraftwerke vom Netz nehmen.
Der französische Rechnungshof warnt zudem davor, dass neue „Atomkraftwerke nicht termingerecht und zu vernünftigen Kosten“ gebaut werden könnten, wie der EPR-Reaktor in Flamanville. Dieser werde frühestens 2023 ans Netz gehen – mit einer Verspätung von elf Jahren. Die Kosten haben sich nach Schätzungen des Rechnungshofs von 3,3 auf über 19 Milliarden Euro mehr als versechsfacht. Das AKW Hinkley Point C in England, das 2026 mit fast zehn Jahren Verspätung in Betrieb gehen soll, wird nach Schätzungen etwa 27 Milliarden Euro gekostet haben – und damit doppelt so viel wie 2008 geplant. Ohne Staatsgarantien für den Strompreis wäre der Bau wohl komplett ausgeblieben.

Atomkraftwerke lassen sich nicht schnell und flexibel regeln Christian Breyer, Professor für Solarökonomie an der finnischen LUT University, bezeichnet Atomkraft daher als „Fass ohne Boden“. Die Milliarden, um die Laufzeiten seiner AKWs zu verlängern, habe Frankreich „eigentlich nicht“. So ist es nur plausibel, wenn manche EU-Länder unter Macrons Führung nun darauf drängen, Atomenergie als nachhaltige Energieform in die EU-Taxonomie aufzunehmen, einen Kriterienkatalog für klimafreundliche Investitionen. So ließe sich eine „mausetote Industrie“ mit EU-Geldern künstlich alimentieren, so Breyer.


„Mit Batterien, einem Mix aus Biogas, importierter Wasserkraft und einem Rest Erdgas“ ließe sich in den kommenden Jahren aber ausgleichen, was durch den Kohleausstieg in Deutschland wegfallen werde, so Breyer. Auch für Energieökonom Andreas Löschel von der Ruhr-Universität Bochum ist Atomkraft „als Backup“ oder „Brückentechnologie“ weder hilfreich noch ökonomisch sinnvoll.


Anders als flexible Gaskraftwerke könne man AKWs bei Engpässen nicht einfach ein- und ausschalten. Das gelte auch bei einer Laufzeitverlängerung in Deutschland. „Der Atomausstieg ist beschlossen. Eine erneute Diskussion wäre absolut schädlich, da sie die Verlässlichkeit von Rahmenbedingungen für die Energiewende und bereits getätigte langfristige Investitionen infrage stellen würde.“


Mit Blick auf die Kosten mache es jedenfalls „keinen Sinn, statt auf Erneuerbare in die unflexible Atomkraft zu investieren, die ohne massive staatliche Finanzierung nicht wettbewerbsfähig“ sei, so Löschel. Dass Staaten wie Frankreich weiter in Atomkraft investieren, liege auch daran, dass Frankreich als Atommacht „vorstrukturiert“ sei. Ein solches durch staatliche Interessen gefestigtes System sei für die Erneuerbaren schwer durchlässig.
Von einem Revival der Atomenergie kann trotz aller Ankündigungen nicht die Rede sein. Seit den 1970er-Jahren ist der Bau von AKWs rückläufig, jährlich gehen mehr vom Netz als neue in Betrieb. „Ökonomisch ist die westliche große Atomindustrie am Ende“, konstatiert Wealer.


Noch für wenige Tage fließt in Gundremmingen der Strom in den Leitungen über Spannbergers Kopf. Der will weiter über die Vorzüge der Atomkraft „aufklären“. Wenn am Jahresende das Kraftwerk vom Netz geht, will Spannberger mittags zu seinem geliebten Atommeiler fahren und dort statt zu feiern ein „Gräbelesbier“ trinken.


ZITATE FAKTEN MEINUNGEN
674 Atomkraftwerke wurden von 1951 bis 2017 weltweit gebaut. Keines davon entstand unter wettbewerblichen Bedingungen.
Quelle: BASE-Gutachten Ökonomisch ist die westliche große Atomindustrie am Ende. Ben Wealer TU-Berlin

Handelsblatt