Klimaschutz mit Gaskraftwerken?

24. Juli 2023

Die deutsche Energiewende ist von Verwerfungen begleitet. Österreich, das beim Ausbau von Wind- und Sonnenstrom Nachholbedarf hat, sollte die Fehler der Nachbarn vermeiden.

Wird Deutschland, wo der Ausbau der Stromerzeugung aus Wind- und PV-Anlagen schon sehr weit fortgeschritten ist, den für 2030 angepeilten Ausstieg aus der Kohleverstromung schaffen? Ja, sagen Experten. Vorausgesetzt, es werden bis dahin fünfzig neue Gaskraftwerke fertiggestellt und in Betrieb genommen. Fünfzig!

Wenn nicht, wird es haarig: Schaltet man die Kohlekraftwerke trotzdem ab, dann drohen, besonders in der Nacht, gravierende Stromlücken. Das passiert eben, wenn man PV und Windstromkapazitäten sehr schnell ausbaut, ohne gleichzeitig auf die erforderliche Infrastruktur wie etwa leistungsfähige Stromnetze und Speicher zu achten. Und gleichzeitig stabil laufende Kernkraftwerke aus ideologischen Gründen vom Netz nimmt.

So geht Dekarbonisierung: Kernkraft durch Kohle ersetzen, die in großem Umfang aus dem fernen Kolumbien herangekarrt wird. Und den Kohleausstieg danach realisieren, indem man das klimaschädliche „schwarze Gold” durch Flüssiggas (LNG) ersetzt, das in großen Schiffen über die halbe Welt aus den USA und dem Mittleren Osten herangeschafft wird.

Dabei ist nach Ansicht jener, die die Energiewende nicht technisch, sondern politisch sehen, die Welt ja voll in Ordnung: Deutschland produziert schon fast die Hälfte seines Stroms aus erneuerbaren Quellen, zwei Drittel davon aus Wind- und Solarkraftwerken. Und es produziert, vor allem jetzt im Sommer, viel mehr Strom, als im Land selbst verbraucht werden kann. Die befürchtete Stromlücke nach der Schließung der Kernkraftwerke ist also nirgends zu sehen. Wenn man das Ganze „bilanziell” betrachtet. Aber nur dann.

Ein Blick hinter die Kulissen fördert freilich das ganze Dilemma zutage: Weil vor allem PV, so sinnvoll deren Einsatz auch ist, am meisten Strom dann liefert, wenn man verlässlich am wenigsten braucht; und wenig bis gar nichts, wenn der Bedarf höher ist, wird deren Einsatz zum finanziellen Desaster. Ein kleines Beispiel aus dem sehr intensiven Stromhandel mit Frankreich: An einem sehr sonnigen Sommertag, dem 2. Juli dieses Jahres, hat Frankreich zwölf Gigawattstunden Strom nach Deutschland geliefert. Überwiegend in der Nacht, wenn die deutschen Solarzellen nichts hergeben. Und dafür knapp 100.000 Euro bekommen. Im Gegenzug hat Deutschland tagsüber rund 24 Gigawattstunden nach Frankreich exportiert. Und dafür, aufgepasst, etwas mehr als 3,5 Mio. Euro nein, nicht bekommen, sondern bezahlt.

Denn am Tag, wenn PV in ganz Europa Überschüsse produziert, die niemand braucht, wird der Strompreis schnell negativ. Wer dann PV-Strom exportieren muss, etwa weil er seinen Ökostromproduzenten Abnahmegarantien gegeben hat, kann den nicht einfach verschenken, sondern muss noch eine Art „Entsorgungsgebühr” drauflegen. In unserem Beispiel im Schnitt des Tages üppige 150 Euro pro Megawattstunde. Klingt nicht nach Geschäft mit Plan, oder?
Das ließe sich natürlich ändern, wenn man den Überschussstrom speichern könnte. Kann man aber noch lange nicht. Speicherseen sind schon aus topografischen Gründen nicht im benötigten Ausmaß möglich, Batteriespeicher im erforderlichen Umfang gibt es schlicht nicht, und sie wären auch kommerziell kaum darstellbar. Die intelligenteste Lösung, nämlich der Einsatz des Überschussstroms zur Herstellung von Wasserstoff, der dann bei Bedarf in den dafür geeigneten Gaskraftwerken verstromt wird, ist zwar technisch möglich, in benötigtem Umfang aber auch noch lang Science-Fiction.

Womit wir wieder bei den Gaskraftwerken sind: Die können die Produktion von Überschussstrom zwar auch nicht abfangen, aber wenigstens die Lücken schließen, die durch die natürlichen Schwankungen bei der Solar- und Windstromproduktion entstehen. Allerdings: Wenn sie, und das ist der Plan, ausschließlich dann auf Volllast laufen, wenn Sonne und Wind „auslassen”, werden sie den Break-even nie erreichen. Bleiben also Dauersubventionsempfänger. Was die Mär vom Beinahe-Gratisstrom aus Wind und Sonne ein bisschen relativiert. Denn selbstverständlich müssen diese Ausgleichs- und Speicherkosten dem Ökostrom zugeschlagen werden, die Konsumenten müssen das ja bezahlen.

Die Situation ist jetzt die: Die Deutschen brauchen, um ihre Pläne zu verwirklichen, in den nächsten sieben Jahren 50 neue Gaskraftwerke. Es ist aber völlig unklar, wer in solche Kraftwerke, die nie in die Gewinnzone kommen, investieren soll. Zumindest so lange, als die Subventionen nicht geklärt sind, um die Berlin gerade mit Brüssel streitet. Ist das geklärt, müssen 50 Kraftwerke geplant werden (einige sind das schon), die bürokratischen Genehmigungsprozesse durchlaufen und dann gebaut werden. In sieben Jahren. Man muss kein großer Prophet sein, um vorherzusagen, dass es unter diesen Umständen 2030 keinen Kohleausstieg geben wird. Von einer Dekarbonisierung der Stromproduktion ganz zu schweigen.

Es hat jetzt aber keinen Sinn, über die “dümmste Energiepolitik der Welt” („Wall Street Journal“) zu polemisieren. Vielmehr sollte man sich diese Verwerfungen genauer anschauen – um daraus Lehren für Österreich zu ziehen. Denn die Alpenrepublik, wo die Kapazität der Wind- und vor allem der PV-Anlagen noch sehr dürftig ausgebaut ist, hat den weiten Weg zur dekarbonisierten Stromerzeugung ja noch vor sich. In zwei Punkten haben wir es natürlich leichter als die Nachbarn: Erneuerbare Wasserkraft deckt mehr als 40 Prozent des Bedarfs ab. Und unsere Kernkraft- und Kohlekraftwerke stehen im grenznahen Ausland, das ein Viertel des Strombedarfs abdeckt. Deshalb wäre es wichtig, das dringend anstehende Projekt Dekarbonisierung ganzheitlich anzugehen. Und parallel zu PV und Wind die Netze (auf allen Spannungsebenen) und die Speicherkapazitäten massiv auszubauen.

Davon merkt man viel zu wenig, und die versprochenen schnelleren Genehmigungsverfahren stehen bisher nur auf geduldigem Papier. Die E-Wirtschaft beklagt etwa, dass von der Einreichung bis zur Genehmigung von für die Energiewende unerlässlichen Pumpspeicherkraftwerken in der Realität bis zu zehn Jahre vergehen. Unter anderem wegen der zahlreichen Einspruchsmöglichkeiten, mit denen paradoxerweise oft Umweltinitiativen die Projekte verzögern. Die massive Förderung von PV- und Windanlagen allein nützt nämlich, wie das deutsche Beispiel zeigt, ziemlich wenig. Und trägt den Keim des kommerziellen Desasters in sich.

Noch eine kleine Anmerkung zur Aufregung, die speziell in der Twitterblase nach dem Mittwoch-Leitartikel („Zu viel Panik auf der Klima-Titanic“) um die Frage entstanden ist, ob die Weltraumbehörde ESA, die mit ihren Satelliten ja die Bodentemperatur misst, mit ihrer 48-Grad-Horrorprognose für Sizilien nun die (höhere) Bodentemperatur oder die der Luft gemeint haben könnte (in ESA-Tweets wurden die Begriffe ja wild durcheinandergewirbelt): In Catania, Palermo und anderen sizilianischen Ballungszentren lagen die tatsächlich gemessenen Lufttemperaturen in den vergangenen Tagen trotz Rekordhitzewelle um 8 bis 14 (!) Grad unter der ESA-Prognose. Das ist kein kleiner Prognosefehler. Und laut den gängigen Prognosen wird sich das in den nächsten Tagen auch nicht ändern. In einzelnen Messstationen am Land wurden die 40 Grad an einzelnen Tagen allerdings deutlich überschritten. Die 48 Grad wurden aber nirgends erreicht. Damit ist die Frage wohl geklärt. Außer man unterstellt der ESA, bewusst Panik schüren zu wollen. Die Realität hält sich halt nicht immer an Narrative.

Mails: josef.urschitz@diepresse.com

Die Presse

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