Rund um das AKW in Saporischschja tobt nicht nur ein Kampf mit Waffen. Es geht auch darum, wohin der Strom fließt.
Frank HölthoneGerhard Schwischei Saporischschja, Wien. Nach dem bisher schwerwiegendsten Zwischenfall rund um das Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine schien es am Freitag zumindest teilweise wieder in Betrieb zu sein. Wie der ukrainische Staatskonzern Energoatom mitteilte, gingen zwei der sechs Reaktorblöcke ans Netz. Da das größte Atomkraftwerk Europas mehrere Stunden vom Stromnetz getrennt gewesen sei, habe die Gefahr eines Super-GAU bestanden, sagte Präsident Selenskyj.
Die letzten beiden noch laufenden Reaktoren waren am Vortag in den Notfallmodus heruntergefahren worden. Anlass war offenbar, dass eine Aschenhalde des benachbarten Wärmekraftwerks in Brand geraten war. Das Feuer soll mehrere Kurzschlüsse ausgelöst und die letzte Stromleitung zum Kernkraft- werk unterbrochen haben.
Normalerweise verbinden vier Stromleitungen das AKW mit dem ukrainischen Stromnetz. Drei davon hat man nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien in den vergangenen Wochen, in denen das Kraftwerk immer wieder beschossen wurde, schon zerstört. Am Donnerstag soll es auch die letzte Leitung, zumindest vorübergehend, getroffen haben. Die russisch kontrollierte Verwaltung im besetzten Teil der Region Saporischschja behauptete, ukrainische Streitkräfte hätten das Gelände beschossen. Die ukrainische Seite beschuldigt zum wiederholten Mal die russischen Truppen, die das Atomkraftwerk am Ostufer des Dnipro Anfang März erobert haben, für die Anschläge.
Für Georg Steinhauser, Strahlenexperte an der TU Wien und Uni Hannover sowie Mitglied des Strahlenschutzbeirats im österreichischen Gesundheitsministerium, ist mit der vollständigen Trennung des AKW vom Stromnetz das „Eis, auf dem man sich bewegt, schon sehr dünn geworden“. Auch wenn die letzten beiden Reaktoren vom Netz genommen worden seien, benötige man Strom, um die Reaktoren weiter zu kühlen. „Ein Reaktor lässt sich innerhalb von Sekunden abschalten, aber nur zu 90 Prozent. Es bleibt eine Restleistung von rund zehn Prozent durch die Spaltprodukte des radioaktiven Abfalls“. Das heißt, die Reaktoren müssen weiter gekühlt werden. Deshalb war es am Donnerstag in Saporischschja auch notwendig, einige der verfügbaren Dieselgeneratoren zu starten, um die Kühlung sicherzustellen.
Steinhauser ist auch deshalb beunruhigt, weil es teils widersprüchliche und nicht nachvollziehbare Informationen aus Saporischschja gibt. So könne man zwar Reaktoren schnell abschalten, aber nicht umgehend wieder starten, weil der Reaktor eine Zeit lang mit dem Spaltprodukt Xenon-135 „vergiftet“ sei und die Kernspaltung blockiere. Umso dringender sei, dass so rasch wie möglich Strahlenexperten der IAEA das Kraftwerk besuchen könnten, um eine Bestandsaufnahme zu machen, was nun wirklich alles zerstört und beschädigt sei.
Salzburger Nachrichten