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Auswege oder Irrwege?

15. Juli 2022, Brüssel

Europas Staaten kämpfen gegen die steigenden Energiepreise. Das Patentrezept hat niemand – aber viele Mosaiksteine könnten ein Bild ergeben.

Alle 27 Regierungen in der Europäischen Union versuchen, die Energiekosten für ihre Bürgerinnen und Bürger einigermaßen im Zaum zu halten. Die Rufe nach einem akkordierten Vorgehen, etwa einem europaweit einheitlichen Preisdeckel, werden immer lauter. Noch aber macht jedes Land, was die jeweilige Regierung für das Beste hält. Ein Überblick über die verschiedenen Methoden.Am besten ist die nicht verbrauchte Energie Beispiel Italien. Dort muss die Beamtenschaft mit gutem Beispiel vorangehen. Sie dürfen die Klimaanlagen in staatlichen Gebäuden in diesem Sommer nicht unter 25 Grad Celsius Raumtemperatur stellen, im Winter nicht über 21 Grad heizen. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) forderte unlängst ähnliche Maßnahmen.

Sparen mag spießig klingen, hat aber großen Effekt – auch in Privathaushalten. 70 Prozent des Energiebedarfs gehen in die Raumwärme, wie das deutsche Statistische Bundesamt errechnet hat.Unabhängigkeit istauch nicht schlecht Je mehr billige erneuerbare Energie bereitsteht, desto weniger werden teures Öl, Gas und Kohle benötigt – und desto besser auch für das Klima. Der Ausbau der Erneuerbaren steht daher bei allen Staaten im Zentrum. Er benötigt aber Zeit.
Finnland und Litauen setzen einen Schwerpunkt. Litauen beschloss im April ein 1,12 Milliarden Euro schweres Paket, um seine Energie-Unabhängigkeit auszubauen. 677 Millionen Euro davon fließen in den Gebäudesektor. Finnland mobilisiert 250 Millionen Extra-Euro in langfristige Energiesicherheit, etwa für Wasserstoff- und Batterieprojekte.Steuersenkungen und Zuschüsse sind beliebt Alle EU-Staaten haben seit Oktober staatliche Zuschüsse und Subventionen eingeführt, um Haushalte und Wirtschaft zu entlasten. Österreich verschickte im Frühjahr an vier Millionen Haushalte Energiegutscheine im Wert von 150 Euro, Dänemark gab im Februar „Heiz-Schecks“ im Wert von je 800 Euro an 320.000 Haushalte aus und Frankreich überwies bereits im Dezember allen, die weniger als 2000 Euro monatlich verdienen, je 100 Euro als Energiekostenzuschuss. Dazu kommen in sehr vielen Ländern Zuschüsse für das Tanken. Weiteres Mittel der Wahl ist die Senkung von Steuern, etwa der Mehrwertsteuer auf Strom, Gas und Sprit.
Der Vorteil: Zuschüsse können zielgerichtet an einkommensschwache Gruppen gehen. Auch Steuernachlässe kommen direkt bei den Endverbrauchern an, wenn auch breit gestreut.

Der Nachteil: Es fehlt der Anreiz zur Änderung des Konsumverhaltens, die Erleichterung für die Betroffenen währt nur kurz.

Alle Maßnahmen, die Kosten für die Endverbraucher senken, verursachen einen grundsätzlichem Kollateralschaden – sie könnten den Verbrauch fossiler Energien erhöhen, damit die Abhängigkeit Europas von Importen zementieren und zudem das Klima weiter anheizen. Ein Deckel hindert die Preise am Überkochen Estland, Rumänien, Bulgarien, Frankreich, Griechenland, Ungarn, Malta, Spanien und Portugal haben bereits staatlich fixierte Preisobergrenzen eingeführt. Frankreich hat die Gaspreise seit Herbst 2021 gedeckelt. Weil der Staat den Preisausfall kompensiert, schlug das ein 20 Milliarden Euro tiefes Loch ins Budget. Im Jänner entschied die Regierung in Paris, den Preisanstieg bei Strom für 2022 auf vier Prozent zu begrenzen. Ungarn wiederum hat die Strom- und Gaspreise im April um ein Fünftel gesenkt und eingefroren. In Ungarn müssen die Energieunternehmen die Verluste selbst tragen – sie sind allerdings fast durchgehend verstaatlicht.

Salzburger Nachrichten

Habeck auf Energie-Mission in Wien

15. Juli 2022, Wien

Analyse. Deutschlands Wirtschaftsminister traf österreichische Regierungsvertreter, um Allianz bei der Gasversorgung zu schmieden. Doch woher kommt das Gas, falls Moskau nicht mehr liefert?

"Dieser Winter wird in Europa sehr, sehr schwierig werden", warnte Fatih Birol, Chef der Internationalen Energieagentur (IEA), am Dienstag. Auch am zweiten Tag der planmäßigen Wartung der Gaspipeline Nord Stream 1 kamen nur sehr spärliche Mengen russischen Gases in der EU an. Die Staaten haben zunehmend Probleme, ihre Speicher bis in den Herbst zu füllen. Eine derart "tiefgreifende und komplexe Energiekrise" habe die Welt bisher noch nicht erlebt, sagte Birol und stellte in Aussicht, dass "wir das Schlimmste vielleicht noch nicht gesehen haben".

Europa könne nur gemeinsam auf diese Bedrohung reagieren, betonten der deutsche Wirtschaftsminister, Robert Habeck (Grüne), und Österreichs Klimaschutz- und Energieministerin, Leonore Gewessler (Grüne), am Dienstag anlässlich des Wien-Besuchs des deutschen Polit-Shootingstars. Habeck traf zudem Österreichs Wirtschaftsminister, Martin Kocher, Europaministerin Karoline Edtstadler und Bundespräsident Alexander Van der Bellen.
Beide Länder waren unter den ersten EU-Staaten, die ein Solidaritätsabkommen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung unterzeichnet hatten. Am Dienstag beteuerte Habeck erneut, auch im Ernstfall weiterhin Gas nach Österreich durchzuleiten. Das ist vor allem für die Haushalte in Tirol und Vorarlberg relevant, da sie am deutschen Gasnetz hängen.

Umgekehrt will Österreich gemeinsam mit der Bundesrepublik den Gasspeicher Haidach befüllen, um einen zusätzlichen Puffer für Deutschland zu schaffen und "unsere europäischen Verpflichtungen zu erfüllen", so Gewessler. Während die übrigen Speicher in Österreich relativ gut gefüllt sind, ist der Gazprom-Speicher, der bisher nur ans deutsche Netz angeschlossen ist, noch leer.

Die Presse

Komm, guter Staat

15. Juli 2022

Die Energiepreise steigen horrend. Ein staatlicher Preisdeckel soll es richten, fordern viele. Doch was kann ein solcher leisten? Und vor allem: für wen?

Für Walter Mayer* kam der russische Angriffskrieg auf die Ukraine am 1. Mai nachhause, in seine 38 Quadratmeter kleine Wohnung in Krems. An diesem Tag erhöhte der niederösterreichische Energieversorger EVN seinen Strompreis um 62 Euro pro Monat. Jetzt zahlt der Mindestsicherungsbezieher 173 Euro dafür, dass er Warmwasser hat.
Seit Monaten steigen die Preise für fossile Rohstoffe, für Erdöl und vor allem für Erdgas in aberwitzige Höhen. Am 7. Juli notierte der als richtungsweisend geltende Terminkontrakt TTF an der Energiebörse in den Niederlanden bei 183,2 Euro je Megawattstunde. Vor einem Jahr noch haben Großhändler 20 Euro gezahlt. In Deutschland rechnet der Branchenverband der Vermieter für das Jahr 2022 mit bis zu 5000 Euro Mehrkosten für einen Vierpersonenhaushalt. Die Zahlen lassen sich auf Österreich umlegen. Und am 1.1.2023 beginnt zwar ein neues Jahr, aber wir stecken immer noch mitten in der Heizsaison. 2023 schaut es nicht besser aus.

969 Euro kann Herr Mayer im Monat ausgeben. Der 62-Jährige ist froh, dass er vor kurzem mit dem Rauchen aufgehört hat. Froh, dass er einmal Koch gelernt hat und mit Lebensmitteln umgehen kann. Er kocht nicht mehr jeden Tag, um Strom zu sparen, friert ein. Fleisch war einmal sein Gemüse. Aber das geht sich jetzt auch nicht mehr oft aus. Und damit ist er nicht allein. Laut einer Studie des Sozialministeriums können sich 1,7 Millionen Menschen in Österreich unerwartete Ausgaben von 1300 Euro nicht leisten, etwa die Reparatur des Autos oder einen Kühlschrank mit Gefrierfach.

Die Erhebung wäre schon in Friedenszeiten erschreckend. Jetzt fürchtet Herr Mayer den Winter. Wenn Russland Europa das Gas als Antwort auf sechs Sanktionspakete der EU ganz kappen sollte, dann könnte die Inflation auf 18 Prozent steigen, rechnet der Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo, Gabriel Felbermayr, vor. Dann kämen nicht nur Menschen wie Herr Mayer, sondern auch die klassische Mittelschicht, die Akademiker und Handwerker, in die Bredouille. Sozialminister Johannes Rauch von den Grünen spricht schon von Unruhen. "Wenn uns die Krise um die Ohren fliegt, also wenn ein Drittel des Mittelstandes nicht weiß, wie es die Miete zahlen soll, dann sind die Leute auf der Straße", sagte er kürzlich auf einer Veranstaltung von Kurier, Profil und der Kronen Zeitung.
Wer kann dem noch etwas entgegensetzen? Es mehren sich Stimmen, die nur noch einen ausmachen: den Staat. Er solle Höchstpreise für Energie festsetzen. Preisdeckel müssen her!

Falter