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Energiestreit zwischen Nord und Süd

24. März 2022, Brüssel

Europäischer Rat. Spanien, Italien und die anderen Mittelmeerstaaten wollen, dass die EU Gas gemeinsam einkauft und Höchstpreise einführt. Davon will man im Norden nichts wissen.

Am Tag vor Beginn des möglicherweise wichtigsten Europäischen Rates seit Jahren zeigte Russlands Autokrat Wladimir Putin, wie er die Europäer an ihrer schwächsten Stelle zu treffen weiß: Er verfügte am Mittwoch, dass russisches Erdgas von den westlichen Abnehmern, die er als "Schurkenstaaten" bezeichnen ließ, ab sofort nur mehr in Rubel zu bezahlen sei, nicht mehr in Euro oder Dollar (siehe dazu Seite 1).
In den Staatskanzleien der 27 EU-Chefs, die sich auf den Gipfel und ihr dortiges Treffen mit US-Präsident Joe Biden vorbereiteten, nahm man das vergleichsweise gelassen zur Kenntnis. "Ich habe davon in den Nachrichten gelesen", sagte ein hoher Regierungsfunktionär gegenüber Journalisten. "Aber die Rechnungen werden von Privatunternehmen bezahlt. Die müssen sich überlegen, was sie damit anfangen."

Offensive des "Club Med"

Der Gipfel am Donnerstag und Freitag wird sich zwangsläufig um die Frage drehen, wie mit den Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine umzugehen sei: von der Unterstützung der ukrainischen Regierung und Streitkräfte über die Hilfe für und Aufnahme der Millionen von Flüchtlingen bis zur Abkoppelung der Union von russischen Energieträgern. Kein Gas, Erdöl, keine Kohle aus Russland mehr möchten die Europäer schon recht bald importieren, um sich nicht weiterhin von den Allüren des Kreml abhängig machen zu lassen. Das Jahr 2027 wird von der Europäischen Kommission seit Längerem lanciert. Es bedeutet aber, binnen nur fünf Jahren Alternativen zu allen drei genannten fossilen Brennstoffen zu finden (und, streng genommen, auch zu russischem Uran, das in den Atomkraftwerken mehrerer Mitgliedstaaten zum Einsatz kommt). "Frankreich kann sich dieses Datum vorstellen, aber das kommt auf die Partner an, man muss das gemeinsam beschließen."

Die Presse

Österreich fehlt eine Energiestrategie

23. März 2022

Die Ergebnisse des Energiegipfels der Bundesregierung sind ernüchternd. Um den Energiepreis mittelfristig auf einem vertretbaren Niveau zu halten und die Abhängigkeit von Russland einzudämmen, muss man jetzt handeln. Fünf Korrekturmaßnahmen, die weit über die aktuellen Beschlüsse hinausgehen.

Ganze 40 Prozent des in der EU verbrauchten Erdgases kommen aus Russland, in Österreich sind es sogar 80 Prozent. Damit avanciert Gas aktuell zur schärfsten Rohstoffwaffe des Kremls: Dreht Moskau am Gashahn, drohen die Speicher in kürzester Zeit leer zu sein. Eine eklatante Energieabhängigkeit, die mehr ist als „nur“ eine offene Flanke im Kräftemessen mit Russland. Sie ist auch ein Beleg für die fehlende Energieversorgungsstrategie von morgen.
Über diese unbequeme Wahrheit können auch die aktuell beschlossenen Maßnahmen der Bundesregierung nicht hinwegtäuschen. Denn begonnen hat die Preisspirale nach oben schon Monate vor der russischen Invasion in der Ukraine. Mit bereits heute schwerwiegenden Folgen für immer mehr Unternehmen in immer mehr Branchen – und damit auch die Menschen im Land. Denn wenn ein Bäcker innerhalb nur eines Jahres fast 140.000 Euro an Mehrkosten für Strom und Gas hat, ist klar, dass irgendwann auch der Brotpreis steigt. Selbiges hört man aus der Hotellerie, den Kfz-Werkstätten oder von Bauunternehmen – von der energieintensiven Industrie ganz zu schweigen.

Staat in der Pflicht

Der Staat ist mehr denn je in der Pflicht, sich mit einer technologieneutralen, gesamtheitlichen Perspektive für die künftige Energieversorgung auseinanderzusetzen. Es gilt, sofort Schritte umzusetzen, um nachhaltig Versorgungssicherheit sicherzustellen und Schaden vom Wirtschaftsstandort abzuwenden.
Schritt eins liegt auf der Hand: die dringend erforderliche Reduktion der Abhängigkeit von ausländischen Energieanbietern. Dazu dürfen wir uns aber nicht mehr selbst im Wege stehen: Nicht enden wollende Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) und Jahrzehnte währende Konflikte über den Bau von Windrädern, Wasserkraftanlagen und erneuerbarer Energien generell werden anderenfalls zum Öko-Bumerang.
Schritt zwei ist das Anerkennen einer für den Staat wohl unbequemen Wahrheit, die da heißt: Einer der größten Profiteure der steigenden Energiepreise ist der Staat selbst. Denn etwa zwei Drittel der Stromkosten entfallen auf Steuern, Abgaben und Tarife. Die beschlossene, temporäre Verminderung der Elektrizitätsabgabe greift zu wenig weit. Stattdessen bedarf es der Einführung von automatischen Preisstabilisatoren. Heißt: Wenn ein definierter Preis überschritten wird, müssen die Abgaben automatisch ausgesetzt werden. Derzeit werden Preishochs von den Steuern nochmals geboostert. Selbst die Europäische Kommission hat bereits entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen, um derartige Mechanismen zu ermöglichen.

Standard

Im Wasser schlummern Milliarden

22. März 2022, Wien

Erneuerbare Energien. Wasserstoff ist das große Thema beim Umstieg auf nachhaltige Energiequellen. Die Aktien profitieren vom Versuch des Westens, rasch die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl zu reduzieren.

Der Russland-Ukraine-Krieg sorgt weltweit für tiefrote Spuren an den Börsen. Aber nicht alle Aktien stürzen ab. Neben Rüstungsaktien zählen vor allem grüne Papiere zu den Gewinnern. Ganz vorn mit dabei sind Papiere von Unternehmen, die sich der Wasserstofftechnologie verschrieben haben. Die Kurse von Nel ASA, Plug Power, Power Cell und ITM Power haben im vergangenen Monat zweistellig zugelegt, obwohl es zwischendurch auch Korrekturen nach unten gab.
Die Suche der westlichen Welt nach alternativen Energiequellen, um sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl zu befreien, hat das Augenmerk der Anleger auf Firmen gelenkt, die auf dem Gebiet erneuerbarer Energien aktiv sind. Neben Wind und Sonne ist das vor allem Wasserstoff.

Grüner und grauer Wasserstoff

Wobei Wasserstoff nicht gleich Wasserstoff ist: Bei der Elektrolyse, mit der Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt wird, benötigt man Strom. Kommt dieser aus erneuerbaren Quellen, ist der Wasserstoff "grün". Werden fossile Brennstoffe eingesetzt, wird der Wasserstoff als "grau" bezeichnet. Der Wasserstoff wird dann in Brennstoffzellen wieder zu Strom umgewandelt. Grüner Wasserstoff soll also nicht nur einen Beitrag zur künftigen Sicherung der Energieversorgung leisten, sondern auch die Reduktion von CO2 vorantreiben. Längerfristig könnte Wasserstoff 15 Prozent des globalen Energievolumens decken, heißt es in einer Studie der US-Großbank Goldman Sachs. Eine ähnliche Prognose kommt von der International Renewable Energy Agency.

Allein mit Erneuerbaren sei die "Nettonull" nicht erreichbar, aber Wasserstoff sei vielfältig einsetzbar — vom Heizen über die Industrie bis zum Transport. "Wir brauchen etwas, was die heutige Rolle des Erdgases übernimmt, um saisonale Schwankungen und Unterbrechungen auszugleichen — und das ist Wasserstoff", sagte Michele DellaVigna, Goldman-Spezialist für Rohstoffaktien, dem US-Sender CNBC. Die Technologie habe enormes Wachstumspotenzial. Laut Goldman Sachs soll der Markt von derzeit 125 Mrd. Dollar bis 2050 auf mehr als eine Billion Dollar wachsen. In dieselbe Kerbe schlagen Experten von Candriam, PGIM und Columbia Threadneedle, die von der Plattform efundreseaarch.com befragt wurden. Wasserstoff hat ihrer Meinung nach das Potenzial, die Kehrtwende in der Umweltpolitik voranzutreiben.

Die Presse

Wie Gasmangel jetzt die Energiewende gefährdet

22. März 2022

Ökostrom-Paradoxon. Ein schneller Ökostromausbau benötigt mehr Gas. Doch Speicher sind leer und die Bezugsquellen unsicher. Eines hat die Energiekrise im Gefolge des russischen Überfalls auf die Ukraine schon bewirkt: In Sachen Energiewende beginnt eine realistische Sichtweise die ideologische zu verdrängen. Letztere ließ sich, vor allem in der deutschen, aber auch in der österreichischen Variante, so kurz zusammenfassen: Wir bauen erneuerbare Energieträger massiv aus, drehen aber schon vorher alles, was fossil oder nach Kernkraft aussieht, rigoros ab. Und schon ist beispielsweise die Stromerzeugung bis 2030 CO2-neutral. Ein nettes Konzept mit einem klitzekleinen Schönheitsfehler: Dafür müsste die Physik der Politik folgen, und nicht umgekehrt beziehungsweise müssten Wind und Sonne immer dann zur Verfügung stehen, wenn man sie gerade braucht. Ein sicheres Rezept für den Energiekollaps also. Jetzt kehrt, wenn auch widerwillig, mehr Realitätssinn ein. In Deutschland hat sich der grüne Energieminister, Robert Habeck, zähneknirschend dafür ausgesprochen, Kohlekraftwerke weiterlaufen zu lassen, sollte Erdgas knapp werden. Und in Österreich will Energieministerin Leonore Gewessler jetzt eine strategische Gasreserve aufbauen. Auch wenn man natürlich weiter den ehestmöglichen Ausstieg aus dem fossilen Energieträger anstrebt. Wobei sich "ehestmöglich" als reichlich dehnbarer Begriff herausstellen wird. Die deutsche Energiewende beispielsweise ist, auch wenn das bisher erfolgreich ausgeblendet wurde, vollkommen gasgetrieben: Je schneller Sonnen- und Windstromkapazitäten ausgebaut werden, desto mehr Gas benötigt man (bei gleichzeitiger Abschaltung der Kern- und Kohlekraftwerke) für die Herstellung der notwendigen Ausgleichskapazitäten für den unregelmäßig fließenden grünen Flatterstrom. Zumindest so lang, bis ausreichend Alternativen — etwa Wasserstoff oder andere Speichermöglichkeiten — zur Verfügung stehen. Also wohl mindestens zehn Jahre lang.

Die Presse